0707 - Im Schatten des Vampirs
Li-Wen bisher immer beruhigt hatte, stachelte ihre Verzweiflung nur noch weiter an.
»Das Morden muss enden!«, schrie sie. »Du kannst sie doch nicht alle umbringen!«
Wenn es sein muss, werde ich auch das tun.
»Aber ich nicht.«
Li-Wen musste sich an einem Stahlgerüst festhalten. Ihre Knie zitterten. »Ich kann nicht mehr, verstehst du? Ich habe alles getan, um Zamorra hierher zu bringen. Ich habe Buchstaben in Tote geritzt, damit mein Vorgesetzter dem Kontakt zustimmt. Ich habe ihn belogen und behauptet, ich wüsste nichts von den Tätowierungen. All das, weil ich das Morden nicht mehr ertragen kann…«
Sie brach ab, hatte keine Kraft mehr, um noch etwas zu sagen. Der Nebel schwebte schweigend vor ihr in der Luft. Li-Wen wusste, dass sie nicht über die Macht verfügte, ihn an seinem Tun zu hindern. Wenn er töten wollte, konnte er das, und sie hatte noch nicht einmal das Recht, ihn dafür zu verachten. Gemeinsam hatten sie diese Aufgabe übernommen. Er trug keine Schuld daran, dass sie nicht mehr in der Lage war, sie zu erfüllen.
Bei Sonnenuntergang, sagte die Stimme plötzlich, wird der Zauber vergehen, der die Sterblichen vor dem Schlaf schützt. Bis dahin gebe ich dir Zeit, den Menschen aus dem Traum zu befreien.
Li-Wen wollte dem Nebel danken, aber er löste sich auf, bevor sie etwas sagen konnte.
Er hatte nicht erwähnt, was nach Ablauf des Ultimatums geschehen würde, doch das war auch unnötig.
Wenn es ihr nicht gelang, die Macht des Traums zu brechen, würde nicht nur Zamorra sterben, sondern mit ihm auch die letzte Hoffnung für die Menschen auf der Bohrinsel.
***
Fu Long saß auf dem Beifahrersitz des Wagens und hing seinen Gedanken nach.
Don Diego hatte ihm nach der Information über Kuang-shi den Aufenthalt in Kalifornien gestattet und sogar die Hilfe seiner Armeen angeboten, aber Fu Long hatte darauf verzichtet. Sein Verrat war eine allgemein bekannte Tatsache, und manche Vampire hätten seine Anwesenheit in ihren Reihen als Provokation betrachtet. Die Zusammenarbeit mit ihnen wäre ein Spießrutenlauf geworden. Außerdem hatte Fu Long angenommen, Zamorra in Los Angeles zu treffen. Aber der hielt sich irgendwo im Ausland auf, und seine Gefährtin war selbst zum Opfer Kuang-shis geworden.
Die Situation war verfahren.
Zumindest der Kontakt zu O'Neill hatte sich bereits ausgezahlt. Er hatte dem Polizisten gesagt, dass Kuang-shi sich in einem größeren, allein stehenden Gebäude befinden musste, da seine starke Aura sonst zufälligen Passanten auffallen würde. Höchstwahrscheinlich lag dieses Gebäude in der Nähe von Chinatown, denn wie er aus eigener Erfahrung wusste, blieben chinesische Einwanderer gern unter sich. Und Kuang-shis Bewacher waren Chinesen.
Menschen denken anders als wir, erkannte Fu Long, als er sich an O'Neills Reaktion auf diese Informationen erinnerte. Ein Vampir hätte versucht, Kuang-shis Aura durch einen komplizierten magischen Vorgang zu lokalisieren, was ohne Hilfsmittel Tage dauern konnte. O'Neill hatte dagegen einfach sein Funkgerät genommen und die Polizeistreifen rund um Chinatown gebeten, ihm die Adressen von Gebäuden zu nennen, auf die diese Beschreibung passte.
Menschen fällt es leicht, andere um Hilfe zu bitten, dachte der Vampir. Das ist eine Stärke, die wir nicht besitzen.
Er bemerkte O'Neills neugierige Blicke und drehte sich zu ihm um.
»Möchtest du mich etwas fragen?«, unterbrach er das Schweigen, das seit Beginn der Suche im Wagen herrschte.
»Ehrlich gesagt, ja, aber ich fürchte, das wird sich ziemlich dämlich anhören.« O'Neill schwieg einen Moment und räusperte sich dann. »Okay- hm… Kannst du fliegen?«
Fu Long verkniff sich ein Lachen.
»Ja«, entgegnete er ernst. »Das ist ein Teil meiner Fähigkeiten.«
»Oh… Aber wie funktioniert das? Ich meine, deine Arme bekommen doch keine Federn, wenn du zum Vampir wirst oder so was. Wieso kannst du auf einmal fliegen, nur weil dich jemand in den Hals gebissen hat?«
»Magie.«
Die Antwort schien sich O'Neill schon selbst gegeben zu haben, denn er nickte ungeduldig. »Ich weiß, aber das ist keine Erklärung, die ich verstehen kann. Diese ganze Magie-Geschichte ist wie eine fremde Welt, zu der ich keinen Zugang finde. Zamorra kann mit einer Silberscheibe in die Vergangenheit blicken, Nicole hat einen Kristall, der die Träume von Menschen sichtbar macht, du kannst fliegen - ich meine, wie funktioniert so etwas?«
Fu Long konnte O'Neills Verwirrung nachvollziehen, aber helfen
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