0707 - Im Schatten des Vampirs
fast körperlich. Sie mussten sich fragen, weshalb sie weiter nach einer Aura suchten, wenn sie den Träger bereits gefunden hatten. Jorge wusste die Antwort auf diese Frage, aber er schwieg und hoffte insgeheim, dass die Nacht vergehen würde, ohne dass sie die Wahrheit erfuhren.
Doch das gestand er sich nicht ein.
***
Nicole verließ den Hauseingang und lief geduckt zu einem Stand, an dem Papier- und Stofflaternen angeboten wurden. Die Deckung zwischen den Waren erschien ihr wesentlich sicherer. Wie in den Geschäften war auch bei den Marktständen kein Verkäufer zu sehen, deshalb fiel es niemandem auf, als sie unter der breiten Theke hindurchschlüpfte und in die Hocke ging. Das Rot ihrer Robe vermischte sich mit den bunten Laternen zu einem undurchschaubaren Wirrwarr aus Farben und Formen.
Perfekt, dachte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Vampiren zu. Die hatten damit begonnen, die Robenträger in der Mitte des Platzes wie eine Viehherde zusammenzutreiben. Überall stolperten apathisch wirkende Menschen umher. Einige Soldaten fassten sich an den Händen und bildeten Ketten, um größere Gruppen vor die Pagode zu bringen. Andere durchkämmten die Gassen auf der Suche nach den Träumenden.
Nicole beschlich das ungute Gefühl, dass sie Zeugin einer Massenopferung werden würde. Wider besseren Wissens rief sie abermals das Amulett, aber ihre ausgestreckte Hand blieb leer, wie sie es befürchtet hatte.
Was soll ich nur tun?, fragte sie sich, während die Menge auf dem Platz größer wurde und der Strom der Neuankömmlinge langsam abebbte. Ohne das Amulett oder zumindest den Dhyarra-Kristall hatte sie nicht die geringste Chance gegen die Vampire. Mit jeder Aktion hätte sie sich nur selbst verraten, aber niemandem geholfen. Wenn sie wenigstens gewusst hätte, aus welchem Grund die Träumenden an diesem Ort waren! Ging es wirklich um eine Opferung, oder bahnte sich ein ganz anderes Ritual an?
In Gedanken verfluchte Nicole Fu Long. Der Vampir war der einzige, der jemals von der goldenen Stadt gesprochen hatte, aber er hielt Zamorra hin, lockte ihn nur ab und zu mit Andeutungen, die kaum Informationen enthielten. Vielleicht kannte er sogar den Grund für diesen Traum.
Das hätte Nicole zumindest nicht überrascht.
Sie sah auf, als einige Soldaten im Laufschritt aus einer Seitengasse kamen. Sie konnte die Schriftzeichen auf ihren Bannern nicht lesen, aber die Reaktion der Vampire auf dem Platz machte ihr klar, dass sie eine wichtige Person ankündeten. Beinahe hektisch hoben die Soldaten ihre eigenen Banner und stellten sich in kleinen Gruppen auf. Nur diejenigen, die mit dem Zusammentrieb der Träumenden beschäftigt waren, gesellten sich nicht dazu.
Im nächsten Moment stockte Nicole der Atem, als zwei schwarze Pferde auf den Platz trabten. Auf dem einen saß ein Mensch mit dem Kopf eines Pavians. Die reich bestickten dunklen Roben, die er trug, wirkten grotesk unter dem Affenschädel.
Im Sattel des anderen Pferdes saß ein Mann, den Nicole nur zu gut kannte, dessen Anwesenheit sie aber so überraschte, dass sie seinen Namen unwillkürlich laut aussprach.
»Zamorra?«
***
»…froh, dass du hier bist«, sagte eine Stimme.
Zamorra verlor beinahe das Gleichgewicht, als der Boden unter ihm zu schwanken begann. Es dauerte zwei Sekunden, bis er begriff, dass er auf einem Pferd saß und einige Sekunden mehr, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Pferde auf Bohrinseln eher selten waren.
»Ich bin wohl nicht mehr in Kansas«, murmelte er in Anlehnung an den Zauberer von Oz und öffnete die Augen.
»Was hast du gesagt?«, fragte die Stimme neben ihm.
Zamorra drehte den Kopf und zuckte zusammen, als er in das Gesicht eines Pavians blickte.
»Nichts«, sagte er spontan. »Ich habe nur laut gedacht.«
Er wandte sich ab und betrachtete stattdessen seine Umgebung und die Stadt, deren breites Tor sie gerade durchritten. Ungefähr zehn Soldaten liefen auf beiden Seiten der Pferde vor ihnen her und ließen Zamorra zu dem Schluss kommen, dass entweder er oder sein Begleiter, den er erst einmal Affenkopf getauft hatte, eine wichtige Person sein musste.
Wo bin ich?, fragte er sich. Seine letzte Erinnerung war das Gespräch mit dem Arbeiter und ein plötzlicher Schmerz, aber als er sich mit der Hand über den Hinterkopf fuhr, fand er keine Spuren eines Schlages, keinen Hinweis darauf, längere Zeit bewusstlos gewesen zu sein.
Trotzdem war er an einem anderen Ort gelandet, trug eine seltsame dunkle Robe und
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