0709 - Märchenfluch
Nicole auf. »Wir können doch nicht einfach nur zusehen, wie er…«
»Glauben Sie mir, wenn ich wüsste, was ich tun könnte, hätte ich es längst getan!«, fuhr sie den alten Mann an, heftiger als gewollt. »Verzeihen Sie, es tut mir Leid, ich ..«
»Schon gut«, erwiderte er. »Ich verstehe Sie ja.«
Nicole hatte Zamorras Kopf und Schultern in ihren Schoß gebettet. Kalt fühlte sich sein Gesicht unter ihren Händen an. Fast wie das eines…
Nein! Daran durfte sie nicht einmal denken! Noch atmete er, noch spürte sie seinen Puls - noch lebte er!
Nicole!
Sie zuckte leicht zusammen. Stagg bemerkte es trotzdem.
»Was haben Sie?«, fragte er.
»Haben Sie das auch gehört?«
»Was denn?«
»Jemand- hat meinen Namen gerufen.«
Stagg verneinte.
Sie aber hörte den Ruf wieder, erkannte die Stimme. Und wüsste, wo er herkam - oder vielmehr, wo er aufklang…
Zamorra?, formulierte sie in Gedanken.
Alles weitere geschah ganz ohne Worte.
Nicole beugte sich über Zamorra. Ihre Lippen berührten die seinen. Kalt wie Stein waren sie erst, dann fühlte sie, wie sie sich erwärmten.
Und dann, endlich, hatte sie ihn wachgeküsst.
Irgendwo im Dunkeln quakte abermals ein Frosch - und diesmal klang es beinah enttäuscht…
***
EPILOG
Am nächsten Tag
Ein Blatt jenes verfluchten Papiers war noch übrig. Amory Stagg wollte es gut nutzen.
Wollte gutmachen, was er angerichtet hatte…
Dieser Professor Zamorra mochte die Gefahr für ihre eigene Welt ja gebannt haben.
Drüben aber, in jener anderen Welt, für die er, Stagg, unfreiwillig den Schöpfer gespielt hatte, lauerten Gefahren noch zuhauf.
Jemand musste sich ihnen stellen.
Jenes Reich hinter der Wirklichkeit bedurfte eines Helden, der es beschützte, eines tapferen Prinzen, eines Ritters in strahlender Rüstung.
Diese Rüstung zeichnete Stagg zuerst. In die gepanzerte Faust platzierte er ein mächtiges Schwert mit flammender Aureole.
Dann kam er zu dem Antlitz, das unter dem hoch geklappten Helmvisier zu sehen sein sollte.
Er rückte den Spiegel ein wenig zurecht und studierte sein Gesicht, in dem die Jahre und das schlechte Gewissen, die Schuld, ihre tiefen Spuren hinterlassen hatten.
Ein paar dieser Linien und Falten würde er weglassen.
Dann gab er dem stolzen Recken sein Gesicht.
***
Zamorra und Nicole hatten sich davon überzeugt, dass es Lester Billings gut ging, und ihn nach Hause gebracht. Sie waren bei Sheriff Lloyd Herrick gewesen, um ihm mitzuteilen, dass der »Fall« erledigt war. Sie hatten ihm, in groben Zügen zumindest, erläutert, was passiert war, und er hatte ihnen natürlich nicht geglaubt. Zamorra hatte ihm eine Reihe von Telefonnummern aufgeschrieben, unter denen er sich über seine Reputation und Glaubwürdigkeit kundig machen konnte. Ob Herrick es tun würde, war fraglich.
Danach waren sie noch einmal nach Fly Creek zurückgefahren, um einen letzten Blick in die Gewölbe unter der Kirche zu werfen. Nur um sicherzugehen, dass es dort nicht doch zu einer weiteren Ausdehnung oder sonstigen Veränderungen gekommen war.
Der Wasserspiegel war weiter gesunken, und die Gewölbewände und -decken schienen zu verblassen. In einiger Zeit würde der Keller vermutlich wieder aussehen wie anno dazumal.
Und am Fuß der Treppe fanden sie Amory Stagg - oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war. Sein papieren wirkender Körper hatte sich fast aufgelöst. Genau wie das Blatt Papier, das vor der untersten Treppenstufe im Wasser trieb.
Er hatte Zamorra und Nicole nichts von seinem Vorhaben gesagt. Aber sie errieten beide, ohne darüber reden zu müssen, was er getan hatte, und warum.
Sie blieben, bis Staggs Körper vollends verschwunden war.
»Wenn er auch in dieser Welt gestorben ist…«, sagte Nicole.
»…lebt er in einer anderen vielleicht noch heute«, schloss Zamorra.
ENDE
[1] Siehe Professor Zamorra Nr. 1 »Das Schloß der Dämonen«
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