071 - Der Hexer mit der Schlangenhand
Clair Bellow ein wie ein warmes, weiches Tuch.
Die Blonde
bewegte sich, ohne es zu wissen; langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen,
mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, die ihr nicht den geringsten
Fehltritt erlaubte.
Nur langsam
wich die Wonne des Schlafes und wurde sich Clair ihrer Umgebung wieder bewußt.
Ihre Augenlider waren schwer; sie konnte sie nur einen Spaltbreit öffnen und
nahm durch den Schlitz nur verschwommene Konturen wahr. Dahinhuschende Schemen,
die sie nicht fassen konnte.
Das Gehen
strengte sie an. Plötzlich schwankte sie. Stöhnend griff sie um sich und
versuchte, sich an dem Kopfteil ihrer Schlafcouch festzuhalten
...
... doch ihr
Bett war verschwunden! Sie bemerkte, daß sie nicht mehr lag, sondern auf den
Füßen stand. Der Stoff, den ihre Hände umfaßten, war nicht etwa ein Kissen,
sondern das Hemd eines jungen Mannes, der sie aus weit aufgerissenen Augen
musterte.
»Geht es
Ihnen nicht gut, Miß ?« stammelte der Junge ziemlich
hilflos. »Fühlen Sie sich nicht wohl? Soll ich einen Krankenwagen holen ?«
»Nein.« Clair
Bellow schüttelte verwirrt den Kopf. Noch immer tanzten ihre Gedanken träge und
ziellos umher; ihre Knie sackten durch, und sie mußte sich an dem Mann
festklammem, um nicht zu stürzen.
»Sie sind
krank, Miß. Sie brauchen Hilfe .«
»Danke .« Clair atmete tief durch. Wo war ihr Bett, ihr Apartment?
Die
Erkenntnis traf sie wie ein Keulenschlag. Sie stand mitten in einer belebten
Straße, vollständig angekleidet, und wußte nicht, wie sie hierher gekommen war,
geschweige denn, wo sie sich überhaupt befand.
Irgend etwas
hatte ihr den Weg gezeigt ... Und mit einem Mal fand sie es ganz richtig, daß
sie ihre Wohnung verlassen hatte. Schließlich wurde sie erwartet
...
Eine geradezu
beängstigende Ruhe und Ausgeglichenheit durchflutete sie. Langsam bekam sie
sich wieder besser in die Gewalt und konnte den Griff von ihrem freundlichen
Helfer lösen. »Mir geht es sehr gut, danke«, murmelte sie. »Ich war nur etwas
... benommen .« Sie lächelte den jungen Mann an.
»Wirklich?«
»Ja.« Sie
machte einen zaghaften Schritt; es ging schon wieder ganz gut. Sie durfte sich
nicht aufhalten; sie mußte weiter.
Wohin?
Clair Bellow
schritt schneller aus. Ihre Beine würden sie schon an ihr Ziel führen; sie
konnte sich darauf verlassen.
Nein, meldete
sich da ganz tief in ihr der Widerspruch. Was tust du da? Du hast keinen
eigenen Willen mehr!
Clair
zögerte. Schließlich hatte sie ja schon erfolgreich gegen den Drang angekämpft,
ihr Apartment zu verlassen; sie hatte sogar Schlaftabletten genommen, um den
unheimlichen Alpträumen zu entgehen. Dennoch war sie nun unterwegs zu einem
Ziel, das sie nicht kannte.
Das junge
Mädchen nahm sich mit aller Willenskraft zusammen. Für einen Moment gelang es
ihr, stehen zu bleiben. Dann schritten ihre Beine automatisch aus. Ihr Körper
gehorchte dem Verstand nicht mehr, nur noch diesem seltsamen Drang, der sie nun
völlig beherrschte, der sie unablässig vorantrieb.
Sie bekam
kaum etwas von ihrer Umgebung mit, nur, daß die Straßen schmutziger und die
Häuser kleiner wurden... und irgendwie fremdartiger. Gelbhäutige Menschen
lächelten freundlich und machten ihr Platz. Respektvoll sogar, wie es ihr
vorkam, obwohl sie nicht wußte, womit sie ihren Respekt verdient hatte.
Plötzlich kam
sie sich hilflos, einsam und verlassen vor. Sie versuchte, die Menschen um sie
herum anzusprechen, um Hilfe zu bitten, nach einem Arzt oder der Polizei zu
fragen. Doch sie brachte keinen Ton über die Lippen, nicht mal ein
unverständliches Stammeln, wie sie es in Tonbandaufzeichnungen in ihren Seminaren
an der Universität gehört hatte, von Menschen, die verrückt geworden waren. Sie
hatte sich die ganze Welt verinnerlicht; ihre ganze Umgebung war Teil von ihr
geworden. Eigentlich brauchte sie sich überhaupt nicht mehr zu bewegen, da sie
alle Orte doch distanz- und zeitlos erreichen konnte.
Aber sie
ging. Ich bin nicht verrückt, erkannte jener Teil von ihr, der noch klaren
Denkens fähig war. Ein fremder Wille beherrscht mich wie ein Spielzeugauto, das
ein kleiner Junge über einen Sender fernsteuern kann, das anscheinend aus
eigenem Willen heraus seine Bahnen zieht, in Wirklichkeit aber doch den drahtlosen
Impulsen seines Lenkers gehorchen muß.
Die chinesische
Enklave in London, dachte sie plötzlich mit einer Klarheit, die sie als völlig
atypisch für ihren momentanen Zustand auffaßte. Nur langsam begriff sie, daß
ihre
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