0711 - Die Psycho-Bombe
trug seine ›Beute‹ in einer Plastiktasche verborgen und wußte auch genau, wo er sich niederlegen konnte.
Da das Schiff schräg lag und der Rumpf auch einige Löcher aufwies, war Wasser in den alten Kahn gedrungen. An der Backbordseite hatte es sich gesammelt und bildete dort eine schmale, knietiefe Lache.
Das war nicht sein Ort. Nico verbrachte die Nächte zwar unter Deck, aber am Heck, wo sich einmal das Steuerhaus befunden hatte. Auch jetzt stand es noch dort, nur hatte es den Gewalten der Natur nicht trotzen können und war teilweise zusammengebrochen.
Für ihn jedoch war noch genügend Platz vorhanden. Wenn Nico sich hinlegte, dann nie auf den nackten Boden. Er hatte eine alte Matratze geholt, auch einige Decken gefunden und sich so ein Lager geschaffen. Er fühlte sich schmutzig, verschwitzt, doch mit dem Bad wollte er bis zum nächsten Morgen warten.
Nico streckte sich auf dem Lager aus.
Es tat ihm gut, die Glieder langmachen zu können, denn in den letzten Stunden war er viel gelaufen, auch wenn er eine kurze Strecke auf einem Lastwagen als blinder Passagier durch London gerollt war. Die meisten Wege legte er immer zu Fuß zurück.
Er lag auf dem Rücken.
Das Lager war so gewählt, daß er durch eine Lücke im Dach den Himmel sehen konnte.
Er liebte es, wenn sich der Himmel verfärbte, wenn die hereinbrechende Dämmerung die Stadt in einen blutigen Schleier tauchte.
Das war dann die Zeit zwischen Tag und Traum, da gingen Nicos Gedanken auf Wanderschaft und blieben nicht mehr in der Umgebung. Er stellte sich vor, daß derselbe Himmel auch über Südspanien lag, nur noch roter, noch intensiver und flammiger.
Ein wunderschönes Bild, zu dem das Rauschen des Meeres paßte und nicht das Gluckern der Wellen gegen die Außenwand des Schiffes. Der Junge besaß genug Phantasie, um sich in diese Lage hineinzuversetzen, aber sehr bald schon würde er dies in natura sehen. Da brauchte er dann nicht mehr zu träumen. Er war oft genug am Hafen gewesen, um sich dort umzuschauen.
Noch wußte er nicht genau, wie er sich an Bord schleichen sollte, aber das war nur eine Frage der Zeit. Ihm würde schon etwas einfallen.
Dann hörte er das Kratzen.
Er konnte die Richtung nicht genau bestimmen, hatte sich früher auch davor gefürchtet, bis ihm klar geworden war, daß es die Ratten waren, die bei Anbruch der Dunkelheit aus ihren Verstecken kamen, um sich an Bord zu bewegen. Sie sahen sich wohl als die einzigen Herren des alten Schiffes an.
Er vergaß sie nie.
Unterwegs hatte er zwei Äpfel gegessen, sich von dem gestohlenen Geld zudem mit Hamburgern vollgestopft, doch an den Proviant für die Ratten hatte er gedacht.
Einige Möhren, aus dem Abfall eines Tagesmarktes herausgesucht sowie Blätter, Grünzeug und halb verfaulte Äpfel bildeten an diesem Abend die Palette der Nahrung.
Er hatte sie an denselben Platz gelegt wie immer, und die Ratten wußten Bescheid.
Früher hatten sie immer gezögert, sich den Dingen zu nähern. Diese Scheu war inzwischen verschwunden. Jetzt kamen sie sehr schnell heran, sobald die Gerüche ihre empfindlichen Nasen erreichten.
Das eine Ende der Matratze schloß mit der Wand ab. Nico setzte sich aufrecht, als er die trippelnden Schritte der Ratten hörte, und schaute nach vorn.
Nicht nur das Loch über ihm war vorhanden, es gab auch keine Scheiben mehr in dem ehemaligen Führerhaus. Durch die Öffnungen wehte der Wind. Er brachte den Geruch des fauligen Brackwassers mit, denn dieser Kanal gehörte zu den toten Gewässern.
Die Ratten huschten heran.
Zuerst waren es nur drei, dann vier, schließlich sechs. Und sie hätten auch auf Nicos Körper Platz gefunden, wenn dort die Nahrung gelegen hätte, so aber blieben sie vor ihm, kümmerten sich nicht um ihn und fraßen gierig.
Nico schaute ihnen zu.
Und er schaute ihnen gern zu, weil er sich durch sein Schicksal mit ihnen verbunden fühlte. Auch die Ratten waren ausgestoßen, niemand wollte sie haben, und genau diese Wesen - ob Mensch ob Tier - gehörten zu Nicos Freunden.
Es war wie immer.
Die Ratten fraßen, sie zerhackten mit ihren Zähnen die Nahrung, sie balgten sich darum, aber sie fraßen das Zeug nicht auf.
Urplötzlich änderte sich ihre Haltung.
Nico schaute zu. Er konnte sich nur wundern, suchte nach einer Erklärung, wobei ihm das Verhalten der Tiere vorkam, als hätten sie einen gemeinsamen Befehl erhalten, der ihnen sagte, die Reste der Nahrung liegenzulassen und zu verschwinden.
Fünf zogen sich sofort zurück.
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