0711 - Die Psycho-Bombe
Sie huschten weg, kratzten über den weichen Boden und waren in irgendwelchen Löchern verschwunden.
Nur eine blieb zurück.
Das Tier starrte den Jungen direkt an und sah so aus, als wollte es ihn warnen.
Nico blieb sitzen. Er fühlte sich nicht mehr wohl. Als er der Ratte zupfiff, konnte er sie damit nicht mehr locken, sie - drehte sich auf der Stelle um und rannte weg.
Allein blieb Nico zurück.
Durch die Nase holte er Luft. Irgendein Geruch hing immer über den Planken. Diesmal roch es nach Blüten, die allmählich verwelkten und süßlich stanken.
Er blieb allein.
Nichts konnte er sehen. Er hörte auch keine Schritte und wußte nicht, was die Ratten so in Panik versetzt hatte.
Aber irgend etwas mußte es schon geben, denn so hatten sich die Tiere nie verhalten.
Nico rutschte weiter vor, bis er sich aufrecht hinsetzen konnte. Er zog auch die Beine an und legte beide Hände um seine Knie. Mit der Zungenspitze fuhr er die Lippen nach, richtete seinen Blick in die Höhe und sah, daß auch der letzte Rest der Sonnenstrahlen von der Dämmerung geschluckt worden war.
Wie ein gewaltiges Feld aus Schlamm senkte sich der Abend über die Millionenstadt London. Am toten Flußarm würde es noch ruhiger werden, aber in dieser Zeit schwangen auch die Echos der Stimmen lauter als gewöhnlich durch die klare Luft.
Eine Stimme hörte Nico nicht, dafür ein anderes Geräusch, das ihm aber auch nicht gefiel.
Es waren Schritte.
Er bekam eine Gänsehaut, das Herz schlug schneller, er dachte sofort an einen Fremden, der sich auf dem Boot befand und sich schon die ganze Zeit über versteckt gehalten hatte.
Er hatte schon öfter Besuch bekommen. Zumeist waren es Stadtstreicher gewesen, die sich auf diesem alten Kahn nicht wohl fühlten und ihn Nico überlassen hatten.
Nur waren sie immer anders gekommen. Nicht so geheimnisvoll oder vorsichtig, nicht wie Diebe.
Und dieser Fremde bewegte sich wie ein Dieb, wie jemand, der sich nicht auskannte und sich erst orientieren mußte.
Nico hielt den Atem an. Sein Herz schlug überlaut. Die Furcht umklammerte ihn wie eine dunkle Schlange und hinderte ihn daran, tief durchatmen zu können.
Auf seinem Nacken lag eine Gänsehaut, die Hände hatte er vom Knie weggenommen, die Arme rechts und links des Körpers durchgedrückt und gegen den Boden gestemmt.
Sein Blick richtete sich auf die schmalen, scheibenlosen Fenster. Die Angst hatte sich so sehr gesteigert, daß er die beiden Rechtecke nicht mehr unterscheiden konnte.
Sie verschwammen…
Wie eine andere Welt kam Nico die Finsternis außerhalb des Schiffes vor, als läge dort das Reich der Finsternis, bewohnt von unheimlichen Gestalten, die sonst nur in seinen traumatischen Phantasien existierten.
Schlimm…
Kam er hier weg? Er wollte, aber er konnte nicht. Nico steckte voller Angst, obwohl seine Gedanken noch immer klar arbeiteten. Er wußte selbst, daß er wegmußte, doch dazu fehlte ihm die Kraft.
So blieb er sitzen und lauschte den Schritten.
Noch zweimal hörte er sie, dann waren sie verstummt. Es beruhigte Nico keineswegs, weil er genau wußte, daß der Unbekannte das Deck nicht verlassen hatte.
Er mußte noch dort sein und warten!
Der Junge schaute nur nach vorn. Die beiden scheibenlosen Fenster waren für ihn wichtig geworden. Nur mehr der starke Mittelrahmen war vorhanden, und Nico konzentrierte sich auf ihn. Einige Male wischte er über seine Augen, hörte sich selbst laut atmen und wünschte sich die Ratten zurück.
Sie kamen nicht mehr.
Dafür erschien jemand anderer.
Er hörte noch einmal das tiefe Knarren. Einen Moment später schob sich etwas von unten hervor in den scheibenlosen Ausschnitt der Fenster.
Es war ein Gesicht!
Nico hielt die Luft an. Den Umrissen nach mußte es einfach ein Gesicht sein. Mehr sah er nicht, keinen Hals, keine Hände, keine Schultern, nur eben dieses Gesicht, das zudem so aussah, als wäre es in den Ausschnitt hineingemalt worden, ohne Nase, Augen und Mund. Einfach so.
In der rechten Hosentasche trug Nico eine Taschenlampe. Er hatte sie mal in einem Kaufhaus gestohlen, nebst zugehöriger Batterien. Jetzt hätte er sie gebrauchen können, nur traute er sich nicht, in die Tasche zu greifen und sie hervorzuholen.
Zu stark war seine Angst!
Schleim behinderte ihn beim Atmen, er schien dann seinen ganzen Kopf auszufüllen, und Nico kam nicht mehr mit.
Zum erstenmal in seinem noch jungen Leben dachte er an den Tod, an das Sterben, an den endgültigen Abschied und…
Da bewegte sich
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