072 - Das Horror Palais von Wien
solcher
Kraft, daß er mitsamt der Pritsche umkippte. Gleichzeitig riß er die Beine an.
Das dehnte die Fesseln und ließ die unteren über die Knöchel rutschen. Im Fall
löste er den Druck auf den Absatz seines rechten Schuhs aus. Die
rasiermesserscharfe, leicht gebogene Klinge sprang hervor. Kunaritschew
winkelte den betreffenden Fuß an und drückte das Messer gegen die beiden
unteren Nylonschnüre, die wie die Saiten einer Gitarre gespannt waren. Ein
kurzer Ruck, und die Schnüre waren gekappt. Das heftige Ausweichmanöver des
Russen führte außerdem dazu, daß auf die Fesseln, die seinen Brustkorb
überspannten, momentan eine ungeheure Kraft ausgeübt wurde. Die Schnur platzte,
und Iwan hatte das Gefühl, als würde er sich aus einer Umklammerung lösen. Auf
dem Boden liegend, verhielt er sich nach diesem plötzlichen Erfolg keineswegs
still, sondern arbeitete wie ein Wahnsinniger an der weiteren Lockerung seiner
Fesseln. Mit Erfolg! Er hörte ein dumpfes Geräusch, als Paul Graf von Cernay
auf den Boden fiel. Es war genau die Stelle, wo sich die Blutlache befand, die
noch größer wurde. Dinge aus verschiedenen Zeiten trafen hier zusammen, und das
Geschehen, das zuvor in der Dunkelheit durch die geisterhafte Atmosphäre
restimuliert worden war, spielte sich nun wirklich ab. Iwan strampelte sich
frei. Die Pritsche, an der er festgebunden war, löste sich aus ihrer
Verstrebung, und er konnte die Arme so weit herumdrücken, daß dies den
Spielraum seiner Fesseln erweiterte. Die Folge war, daß er eine Hand freibekam.
Alles andere war ein Kinderspiel. Er streifte die Schnüre ab wie eine Schlange,
die sich häutet. Mit einem Tritt beförderte er die Reste dessen, was noch zur
Pritsche gehörte, auf die Seite und sprang auf die Beine.
Die
mordende Gräfin stand noch vor ihrem Sohn, achtete aber nicht auf den Fremden.
Nahm sie ihn nicht wahr?
Iwan
konnte sich das schlecht vorstellen. Dann würde alles, was Rakow sich von
Kunaritschews Anwesenheit hier im Spukzimmer versprach, nur Angstmacherei sein.
Doch damit konnte man einen Mann wie Iwan Kunaritschew nicht ins Bockshorn
jagen. Iwan wirbelte herum. In das Todesröcheln des jungen Grafen mischte sich
leises Stöhnen. Doch es hätte nicht dieses Geräusches als Signalwirkung auf
Iwan bedurft, um ihn zum Handeln zu bringen.
Er
war frei, und er wußte um die Situation seines ohnmächtig hier eingelieferten
Kollegen. X-RAY-7 war trotz seiner noch wie abgestorben sich anfühlenden Hände
und Beine mit zwei schnellen Schritten an Pörtschers Pritsche. Er legte beide
Hände unter die Fesseln, die die Brust seines Kollegen einschnürten, und riß
dann daran. Allein bei dieser Aktion zeigte sich die ungeheure Kraft, die in
dem Russen steckte. Er riß die Schnüre auseinander und achtete nicht auf den brennenden Schmerz in seinen Händen, der
entstand, als die Nylonkordel tief in die Haut schnitt. Mit flinken Bewegungen
löste Kunaritschew die Fesseln. Pörtscher war noch benommen und wußte nicht, wo
er sich befand und wie er hierher kam. Aber er erkannte die Situation und half eifrig
mit, sich aus den Fesseln zu schälen. Er richtete sich auf. »Choroschow?«
fragte Iwan schnell atmend. »Alles in Ordnung, Peter?«
»Danke…
ja… Achtung! « Pörtscher schrie die Warnung hinaus und versetzte
Kunaritschew gleichzeitig einen Tritt in die Seite, daß sein Kollege nach vorn
taumelte. Das war sein Glück. Hinter ihm, stand die mordende Gräfin! Ihr
blutbesudeltes, langes Messer zuckte vor. Und es traf!
Die
Klinge schlitzte Iwans Jacke auf und ritzte seine Haut. Nur dem Umstand, daß er
eine schnelle Drehbewegung gemacht hatte, rettete ihn vor einer schweren
Verletzung, vielleicht sogar vor dem Tod. Der Geist der Todesgräfin hatte sich
ihm zugewandt und wurde für die Lebenden dieser Zeit zur ernsthaften Bedrohung. »Raus hier!« brüllte Kunaritschew.
Tanja
Gräfin von Cernay warf sich nach vorn, Iwan Kunaritschew entgegen. Ihr
grau-grün schimmerndes Gesicht war vom Haß verzerrt. In den Augen flackerte ein
kaltes Licht. Die Augen einer Mörderin, einer Besessenen!
X-RAY-7
wußte, daß dies das Reich der Spukerscheinung war, daß sie nur hier in der
Dunkelheit ihre gefährliche Kraft entwickeln konnte. Er hechtete auf die Seite,
während Pörtscher mühsam taumelnd auf die Beine kam, sich aber wie sein Kollege
keine Sekunde Ruhe gönnte. Er packte die wackelige Pritsche, riß sie empor und
ließ sie auf die Gespenstererscheinung herabsausen. Die Mörderin
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