0724 - Vampirträume
verlassen. Er hatte das Recht verwirkt, in der Anwesenheit seines Herrn leben zu dürfen.
»Kuang-shi.«
»Kuang-shi.«
Leise begann der Gesang der Tulis-Yon. Agkar nahm ihren Rhythmus auf und öffnete seinen Geist. Die Aura seines Herrn war allgegenwärtig, erfüllte ihn mit Ehrfurcht und einem Gefühl unendlicher Dankbarkeit. Der Gesang schwoll an, als seine Krieger die Aura ebenfalls spürten. Für dieses Ritual, das spürte jeder von ihnen, lebten sie, kämpften sie und starben sie. Es gab keinen anderen Grund für ihre Existenz, keine Notwendigkeit einer Erklärung, nur die Präsenz ihres Herrn. Agkar tauchte in das Gefühl ein wie ein Verdurstender in die Wellen eines Flusses, sicher aufgehoben in dem Wissen, dass sein Platz an der Seite Kuang-shis war.
Und dann stand er dort, die Hände vor dem Körper gefaltet, den Blick auf jeden einzelnen Tulis-Yon gerichtet. Die Stimmen verstummten unter der Macht seiner Gegenwart.
»Es hat begonnen«, sagte Kuang-shi.
***
Jeffrey Smythe, der neue Herrscher Kaliforniens, begriff noch immer nicht so richtig, was geschehen war. Obwohl seine Trommelfelle längst verheilt waren, hörte er die aufgeregten Worte der anderen Vampire kaum. Zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Don Diego hatte zum zweiten und letzten Mal versagt. Er hatte Baals Macht unterschätzt und mit seinem überstürzten Schwur seinen eigenen und den Tod der anderen verursacht. Die Gier nach Rache war zu seinem Untergang geworden.
Ich werde nicht so dumm sein, dachte Jeffrey. Er wusste, dass der Schwur ihn bis zu Kuang-shis Tod an Baal band. Erst danach konnte und würde er handeln.
Um ihn herum legte sich die Aufregung langsam. Jeffrey hatte die jetzt verwaisten Familien von Anthony und Miguel in den Weinbergen zusammengerufen und behauptet, die Oberhäupter seien von Kuang-shis Horden ermordet worden.
Niemand hatte an seinen Worten gezweifelt.
»Brüder und Schwestern«, rief er, als auch die letzten Diskussionen verstummt waren. »Ihr seid herrenlos und allein. Die Namen eurer Familien sind vergangen und euch bleibt nur noch ein ehrenhafter Tod oder die Flucht und ein Leben in Schande. Wie ihr wisst, kann ich keine herrenlosen Vampire in meinem Staat dulden, aber da ich viele von euch schon sehr lange kenne, gebe ich euch bis zum Sonnenaufgang, um eine Entscheidung zu fällen. Danach werden meine Armeen euch jagen und pfählen.«
Stille legte sich über den Weinberg. Jeffreys Blick zuckte zu Baal, der abseits stand, eine dunkle Silhouette vor dem sternenklaren Himmel. Seine Robe flatterte im Wind, aber es war kein Laut zu hören.
»Lord Jeffrey«, sagte eine helle Frauenstimme. Jeffrey drehte den Kopf und sah, wie eine Vampirin aus der Gruppe vortrat. Er war ihr schon oft in Anthonys Haus begegnet, kannte jedoch ihren Namen nicht.
»Was willst du?«, fragte er und bemühte sich, hart und unfreundlich zu klingen.
Sie neigte den Kopf. »Wir alle haben Schande auf uns geladen, weil wir den Tod unserer Oberhäupter nicht verhindern konnten. Es ist Euer Recht, uns davonzujagen. Trotzdem möchte ich Euch um etwas bitten, wenn Ihr das nicht als anmaßend empfindet.«
Na mach schon, dachte Jeffrey ungeduldig. Er ahnte, worauf sie hinauswollte, aber für seinen Herrschaftsanspruch war es wichtig, dass der Vorschlag von ihr kam.
»Sprich!«
»Ja, Lord Jeffrey. Die Tradition erlaubt es einem Herrscher, die verwaiste Familie eines anderen zu adoptieren. Ich bin sicher, dass ich für alle spreche, wenn ich um diese zweite Chance bitte. Wir verlangen keine Rechte, nur Pflichten, und wenn Ihr es verlangt, werden wir für Euch bis zum Tod kämpfen.«
Mit gesenktem Kopf kniete sie nieder. Nach einem Moment folgten die anderen. Jeffrey bemühte sich, seine Aufregung zu verbergen, als er über zweihundert Vampire vor sich knien sah. Zusammen mit seinen hundert Kriegern war das die größte Armee, die sich je unter einem Herrscher vereint hatte. Sein wahrer Triumph war es jedoch, dass die Familien freiwillig zu ihm gekommen war, genau so, wie er es geplant hatte.
»Ihr seid eine Schande für euer Volk«, sagte er, »aber trotzdem bin ich bereit, eure bedingungslose Unterordnung zu akzeptieren. Von dieser Stunde an seid ihr von meinem Blut, meinem Fleisch und meinem Geist. Wir sind Familie.«
»Wir danken dir, Lord Jeffrey.«
Er spürte, wie sie ihren Geist öffneten und ihn einließen. Die Verbindung, die er erschuf, war stark und zwang ihnen seinen Willen auf. Bei seiner eigenen
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