0724 - Vampirträume
Gespräch als ein Verhör war. Tsa Mo Ra stellte die Fragen, während Wu Huan-Tiao ihn aus seinen Affenaugen stumm beobachtete. Youweis Blick glitt immer wieder zu dem bizarren Wesen mit dem Paviankopf, das wie eine Figur aus einem alten Märchen wirkte. Er fragte sich, ob es auch ein Vampir war.
Ein Diener rutschte auf Knien heran und füllte die Teetassen wieder auf. Tsa Mo Ra hatte zu Beginn des Verhörs Sitzkissen bringen lassen und Youwei erlaubt, mit ihm auf einer Höhe zu sitzen. Wenn er die Stellung des Hofzauberers richtig deutete, war das eine große Ehre und er hatte sie entsprechend dankbar entgegengenommen. Wu Huan-Tiao saß über ihnen. Er wirkte arrogant und eitel.
»Lasst uns über die Soldaten Eures Regenten sprechen«, sagte Tsa Mo Ra, während er seine Teetasse zwischen den Fingern drehte. »Ein mächtiger Mann wie er wird wohl eine ebenso mächtige Armee haben.«
Youwei war auf die Frage vorbereitet. Nachdem sie über Wissenschaft, Kultur und Handel gesprochen hatten, war es nur logisch, dass der Herrscher von Choquai sich auch über die Militärmacht informieren wollte. Ebenso logisch war es, dass Tsa Mo Ra die Frage erst nach dem Essen stellte, wenn das Gehirn träge war und die Zunge locker saß.
»Der Regent«, sagte er, »ist ein weiser und gütiger Herrscher. Die Größe seiner Armee spiegelt die Liebe zu seinem Volk wider.«
In Wirklichkeit reagierte der Regent wie ein Despot und knüppelte jeden Widerstand gnadenlos nieder. Seit den Kriegen war seine Armee so stark dezimiert, dass er fast alle Kräfte benötigte, um die Ruhe im Reich zu erhalten.
Ein Lächeln huschte über Wu Huan-Tiaos Gesicht. Tsa Mo Ra lachte und streckte sich.
»Ihr seid ein wahrer Diplomat, Wang Youwei. Ich frage mich, warum Euer Regent einen so weisen Mann in den Tod schicken wollte.«
Youwei glaubte, ins Gesicht geschlagen zu werden.
»Wollte er das?«, fragte er scharf.
»Was wisst Ihr darüber?«
Die beiden Zauberer tauschten einen kurzen Blick. Youwei konnte sehen, dass Tsa Mo Ra seine Worte am liebsten zurückgenommen hätte, aber sie waren gesprochen worden und hingen jetzt wie eine übelriechende Wolke im Raum.
»Bitte entschuldigt die Unhöflichkeit meines geschätzten Kollegen und Freundes«, sagte Wu Huan-Tiao mit weicher Stimme. »Er bereut seine Worte und bittet um Vergebung.«
Tsa Mo Ra verneigte sich zur Bestätigung und Youwei blieb nichts anderes übrig, als die Entschuldigung anzunehmen. Wu Huan-Tiao hatte als Ranghöchster das Thema abgeschlossen. Jetzt noch einmal nachzuhaken, wäre ein grober Verstoß gegen die Höflichkeit gewesen, bei dem alle Beteiligten das Gesicht verloren hätten. Trotzdem brannte die Frage Youwei auf den Lippen, denn es war klar, dass die beiden Zauberer mehr über ihn wussten, als sie zu erkennen gaben.
»Es ist bereits spät«, sagte Tsa Mo Ra, nachdem sich das Schweigen in eine peinliche Länge gezogen hatte. »Die Stunde der Ratte [6] beginnt gleich.«
In einer geschmeidigen Bewegung kam er auf die Beine, winkte einem Diener heran und flüsterte ihm ein paar Worte zu. Youwei war erleichtert, dass das Gespräch beendet war. Er benötigte Zeit und Ruhe, um über das Gesagte nachzudenken.
Tsa Mo Ra sah ihn an. »Der Oberste Guan hat mir die Ehre erwiesen, Euer Gastgeber zu sein. Damit steht Ihr unter meinem Schutz. Ich hoffe, mein Haus wird Euren Ansprüchen genügen.«
Youwei verneigte sich tief. »Ich bin mir sicher, dass es sie weit übertreffen wird«, sagte er höflich, während sich seine Gedanken überschlugen. Man hatte ihn anscheinend aufgewertet, von einem einfachen Gefangenen zu einem Gefangenen, der im Haus eines hochgestellten Mannes leben durfte. Er machte sich keine Illusionen über das Wort Gast. Das war eine Höflichkeitsfloskel, die nicht darüber hinwegtäuschte, dass er immer noch den Herrschern dieser Stadt ausgeliefert war. Nur eines hatte sich geändert: Von jetzt an trug Tsa Mo Ra die Verantwortung für sein Schicksal. Wenn ihm die Flucht, die er seit dem Moment seiner Gefangennahme plante, tatsächlich gelang, würde der Zauberer dieses Versagen mit dem Tod bezahlen.
Youwei tastete nach dem Dolch unter seinen Roben.
So, dachte er, geht nun einmal jeder seinen vor gezeichneten Weg…
***
Hope rannte durch die Nacht. Längst hatte sie die befahrenen Straßen hinter sich gelassen, durchquerte Vorgärten und Hinterhöfe, nahm Abkürzungen, die sie noch nie zuvor bemerkt hatte. Ihre Sinne waren geschärft, ihr Orientierungssinn
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