0732 - Schattenreiter
Auch Fabienne Stone hatte sie vernommen. Sie stoppte ihre Schritte noch vor den drei breiten Stufen, die zum Portal hochführten, und drehte sich um.
Aus verschiedenen Stellungen schauten wir in dieselbe Richtung, wo das Schlurfen der Schritte lauter geworden war und die geheimnisumwitterte Hanita aus dem Schatten der Wagen erschien.
Wie ein Geist war sie aufgetaucht, und dünne Nebelschwaden begleiteten sie. Ihre Tritte knirschten über den Untergrund, als wäre sie dabei, Glassplitter zu Krümeln zu zertreten.
»Bleib stehen, Fabienne!«
Nicht nur sie schrak zusammen, ich ebenfalls. Denn damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war davon ausgegangen, daß Hanita mit mir reden wollte, aber sie hatte sich Fabienne ausgesucht.
Und die gehorchte.
Sie stand auf der ersten Stufe. Platz genug war vorhanden. Mit einer zögernd wirkenden Bewegung streckte sie Hanita den rechten Arm entgegen.
»Was willst du?«
Die Frau ging noch weiter. Sie zog ihr Kopftuch dabei enger und bückte sich leicht. Für mich hatte sie noch immer keinen Blick, allein wichtig war Fabienne.
»Was hast du getan?« fragte sie.
»Wieso…?«
»Du läßt diesen Mann nicht in das Schloß? Du enttäuschst mich, Fabienne, du enttäuschst mich sehr.«
Daß sie diese Worte sagen konnte, bewies mir wiederum, daß Hanita zugehört hatte.
»Nein, er bleibt draußen!«
»Warum?«
»Fang du nicht auch noch an!« rief sie wütend. »Ich kann bestimmen, wen ich in das Schloß lasse und wen nicht.«
»Das stimmt schon. Aber dieser Mann ist nicht irgendwer. Er meint es gut, Fabienne.«
»Er bleibt draußen!«
Hanita nickte einige Male. »Ich habe befürchtet, daß du so reagieren würdest. Ja, das habe ich befürchtet, und ich finde es nicht gut, denn ich kann mir vorstellen, daß du etwas zu verbergen hast. Wer so handelt, der hat kein reines Gewissen.«
»Ich will keine Fremden und keine Spione haben.«
»Nein, das ist nicht der Grund.«
»Dann sag mir einen anderen!«
Hanita ging auf die Forderung ein. Aber sie sprach dabei Fabienne persönlich an. »Du bist nicht mehr die, die ich kenne. Du bist auch nicht mehr dieselbe Person wie heute morgen noch. Du hast dich verändert, Fabienne. Die Fahrt durch den Nebel und die Einsamkeit der Berge hat dich zu einer anderen gemacht, das ist für mich genau zu spüren. In den letzten Stunden geschah etwas, das dich verändert hat, Fabienne. Nicht zum Positiven verändert, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Ich spüre an dir etwas, das ein Mensch weit von sich weisen soll. Es ist etwas über dich gekommen, dem du dich nicht entgegenstellen konntest, weil es einfach zu stark war.«
»Jetzt reicht es, Hanita. Du redest einen absoluten Schwachsinn. Woher willst du wissen…?«
»Ich spüre es.«
»Wie schön«, bemerkte sie sarkastisch.
»Es ist überhaupt nicht schön, wenn man sich so verändert hat wie du. Wenn man nicht die Person ist, die man eigentlich hätte sein müssen. Wenn man sich dem Bösen zugekehrt hat, einer Macht und einer Kraft, die für Menschen nur schlecht sein kann. Fabienne, du hast dich verändert, und etwas hat dich verändert.«
»Rede nicht…«
»Ich weiß, daß es dir nicht gefällt, aber es ist so. Deshalb gebe ich dir einen Rat.«
»Nein, ich verzichte.«
»Ich werde ihn dir trotzdem geben, Fabienne!«
Hanita ließ sich nicht beirren, und ich kam nicht darum herum, diese Frau zu bewundern. Sie zeigte einen unerschütterlichen Einsatz und ließ sich von ihrem Weg nicht abbringen.
»Bleib draußen, Fabienne. In dir steckt etwas Böses, etwas Schlimmes. Es ist dir begegnet, es hat dich überfallen. Und trotzdem, du kannst es noch besiegen. Bleibe weg, gehorche einmal mir. Wende dich an John Sinclair, er kann dir helfen.«
»Helfen, Alte? Bist du verrückt?« Fabiennes Gesicht verzerrte sich. Ich konnte es deshalb sehen, weil Licht durch ein Fenster fiel und auch die Gestalt der Frau traf.
Hanita hatte voll ins Schwarze getroffen. Sie hatte Fabienne Stone unsicher gemacht.
Ich konnte das Geschehen nicht nachvollziehen, weil es Fabienne direkt betraf. Ich hatte sie nicht so kennengelernt wie die alte Weissagerin, aber ihre Worte hatten in mir den Eindruck verstärkt, daß ich die Stone nicht aus den Augen lassen durfte. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, daß sie etwas mit den Schatten zu tun hatte - so sah sie gar nicht aus -, aber man schaute einem Menschen ja nur vor den Kopf und nicht hinein.
Ich ging vor.
»Ja, geh nur, John«, sagte die Frau zischend.
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