0739 - Varneys Rache
gezeigt hatte.
Und in der sie einen Namen gehabt hatte…
»Jakob«, sagte eine längst vergessen geglaubte Stimme.
Das konnte nicht sein. Er war tot! Und doch war da diese Stimme.
Eine schlanke, hoch aufgeschossene Gestalt löste sich vom Hintergrund der Höhle. Sie war nackt. Das Mondlicht beleuchtete die vertrauten, ebenmäßigen Züge. Die Lippen waren wie immer zu einem ironischen Lächeln verzogen.
»Vvv… Va… Var…« Die Kreatur hatte seit Jahrzehnten kein Wort mehr gesprochen. Sie hustete, konzentrierte sich und probierte es erneut. »Varrneyy«
»Was haben sie dir angetan, alter Freund?«
Varneys Augen blitzten. Er sah genauso aus wie damals, als sie ihn gefangen und in diese verfluchte Burg geschleppt hatten. Doch etwas Dunkles schien sich über seine Seele gelegt zu haben. Ein unstillbares Verlangen nach Rache.
Jakob bemerkte eine leblose Gestalt zu Varneys Füßen. Eine Frau. Ihr Pullover war blutverschmiert. Offenbar war sie tot. Ein Schauer durchlief Jakob, als er an seine letzte Begegnung mit den Menschen dachte.
»Ich habe dich gerächt«, flüsterte Jakob, als längst vergessene Teile seiner verschütteten Persönlichkeit wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins drängten. »Ich habe dich gerächt. Doch die Sonne… Sie hat mich verbrannt.«
Er erinnerte sich an den Heuschober, in den er sich hatte flüchten können, bevor er ganz in Flammen stand. Doch er war zu lange der zerstörerischen Kraft der Sonne ausgesetzt gewesen. Die vampirischen Selbstheilungskräfte hatten die Wunden nicht mehr schließen, die Entstellung seines Leibes nicht mehr rückgängig machen können.
Als die Nacht hereinbrach, war Jakob zurückgekehrt. Doch die Dorfbewohner warfen mit Steinen und Fackeln nach ihm, und so versteckte er sich in den Bergen. Bis heute. Eine einsame Kreatur, verborgen vor den Augen der Welt.
Jakob weinte. Varney streichelte ihm über den Kopf, aber seine Hand zitterte vor Wut. »Jetzt werde ich dich rächen! Ich bin wieder da, Jakob. Und die, die uns das angetan haben, werden sich wünschen, sie wären nie aus den Schößen ihrer Mütter gekrochen!«
***
Peter Kanopke wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hasste diese Gänge in den Keller. Vor allem, wenn er schlechte Nachrichten zu überbringen hatte.
Der Meister reagierte gar nicht gut auf schlechte Nachrichten. Das hatten bereits viele am eigenen Leib erfahren Der Direktor der Berliner Privatbank zupfte seinen mausgrauen Anzug zurecht, rückte seine Brille gerade und machte sich auf den Weg. Es war Zeit. Er konnte es nicht länger aufschieben.
Das altehrwürdige Gebäude im Berliner Stadtteil Charlottenburg war leer. Die letzten Mitarbeiter waren schon vor Stunden gegangen. Nur Kanopke war noch geblieben, hatte so getan, als müsse er noch an der neuen Marketing-Offensive feilen. Dabei hatte er den ganzen Tag nur an den Bericht ihres Agenten in Bukarest gedacht, den er nun unter seinen Arm geklemmt hatte, und auf den Sonnenuntergang gewartet.
Das Büro des leicht beleibten Endvierzigers lag im ersten Stock. Rechter Hand befand sich der Fahrstuhl, der in die anderen Etagen des Verwaltungstraktes und ins Erdgeschoss führte. In die normale Welt.
Kanopke ignorierte ihn.
Stattdessen hielt er sich links. Dort gab es einen weiteren Fahrstuhl, der für die meisten Angestellten strikt verboten war. Offiziell führte der Aufzug in einen zweiten Tresorraum, in dem extrem wertvolle Gegenstände untergebracht waren. Doch was sich wirklich in den geheimen Kellerräumen befand, wussten nur wenige Eingeweihte. Und die würden sich hüten, es jemandem zu erzählen.
Kanopke rief den Fahrstuhl mit einem Spezialschlüssel. Die Türen glitten fast geräuschlos zur Seite. Auf der Steuerleiste der Kabine befanden sich nur zwei Knöpfe. Einer für aufwärts, einer für abwärts. Kanopke drückte den unteren Knopf.
Sekunden später betrat er einen winzigen Raum mit einer schweren Stahltür, die nur mit einem sechsstelligen Code geöffnet werden konnte. Fahrig tippte der Bankdirektor die Kombination in den Ziffernblock.
Mit einem unheimlichen Fauchen öffnete sich die große Tür. Ein düsterer, nur mit zwei Reihen Fackeln schwach beleuchteter Gang empfing ihn. Ein unangenehmer, faulig-süßlicher Geruch drang in seine Nase. Kanopke strich sich nervös über den schwarzen Schnurrbart, bevor er eintrat. Er war schon so oft hier gewesen, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.
Nach etwa zwanzig Metern und zwei Biegungen kam
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