Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

Titel: 0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
Vom Netzwerk:
verschlossen ihn feste Platten.
    Sie sah die Bewegung im Schatten des Wagens.
    Dort stand jemand.
    Nein, er ging.
    Mit ruhigen Schritten trat er auf den Bahnsteig hinaus, und Cornelia ging noch weiter auf ihn zu, bis sie sicher sein konnte, daß auch er sie entdeckt hatte.
    Dann blieb sie stehen.
    Sie mußte sich beherrschen, um nicht laut zu schreien. Vor ihr stand er, ja, das war er, das war der Tod.
    Der Tod in Gestalt eines Kindes.
    ***
    Cornelia, die Frau vom Bahnhof, rührte sich nicht. Sie mußte diesen Anblick und zugleich den Sturm der Empfindungen erst einmal verkraften, dann konnte sie etwas unternehmen.
    Du mußt dich zur Ruhe zwingen! Du mußt dir nichts anmerken lassen. Du mußt es einfach tun.
    Sie öffnete den Mund und holte tief Luft. Jetzt ging es ihr etwas besser.
    Das Kind war ein Junge. Vielleicht zwölf Jahre alt, aber keinesfalls älter. Es schien gemerkt zu haben, daß mit der alten Frau etwas nicht stimmte, denn es schaute sie an.
    Starr, unbeweglich…
    Sie fröstelte unter diesem Blick. Er kam ihr irgendwie geschliffen vor, als wollte er sich direkt in ihre Seele hineinbrennen, um Gewalt über sie zu bekommen.
    Noch hatte sie mit dem Jungen kein Wort gesprochen. Noch war es Zeit, sich umzudrehen und zu fliehen. Aber feige war Cornelia noch nie gewesen. Sie hatte den Stürmen des Lebens stets ins Auge gesehen und sich auch mit dem Schicksal abgefunden.
    Jetzt wollte sie ebenfalls nicht kneifen.
    Der Zug hatte Verspätung. Er kam aus Amsterdam, eine große Strecke lag hinter ihm. Mit monotoner Stimme gab die Ansagerin die Verspätung bekannt. Vorläufig um eine Viertelstunde.
    Es war Cornelia eigentlich egal. Sie mußte sich einzig und allein um den Jungen kümmern.
    Er war der Tod.
    Ihre Augen waren noch gut, deshalb konnte sie auch Einzelheiten aus einer gewissen Distanz erkennen. Alles, was der Junge an Kleidung trug, kam ihr auf einmal nicht normal vor.
    Sein Mantel war wie ein Umhang geschnitten. Seine Farbe war dunkel, möglicherweise blau oder schwarz. Da der Wind über den Bahnsteig wehte, spielte er mit den Falten des langen Mantels und wehte ihn von einer Seite zur anderen, als wollte er mit dem Saum des Kleidungsstücks den Bahnsteig fegen.
    »Ich muß gehen«, flüsterte sie sich zu. »Ich muß mit diesem Jungen sprechen. Ich will wissen, was er vorhat, und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben herausbekomme.«
    Die einzelnen Sätze hatten ihr selbst Mut gemacht. Bevor sie den ersten Schritt tat, ging ein Ruck durch ihren Körper. Es war wie ein Startsignal, und sie änderte die Richtung auch nicht. Geradewegs näherte sie sich dem Jungen, der sich nicht rührte. Er stand dort wie eine Eins. Er schaute ihr entgegen, seine Haare bewegten sich im Wind wie eine dunkle Matte. Sie waren halblang geschnitten, fielen in die Stirn und fast auch bis über beide Ohren.
    Er hielt seinen Kopf etwas schief und dabei gesenkt. So konnte er die alte Frau anschielen, als sie auf ihn zukam. Er tat nichts, er wartete und hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt. Der Junge kam ihr vor, als wüßte er über sie ebenso Bescheid wie sie über ihn, und das war durchaus möglich, denn er gehörte nicht zu den normalen Menschen, auch wenn es so aussah.
    In ihrem Alter setzte man die Schritte nicht mehr leichtfüßig. Doch an diesem späten Abend ging Cornelia besonders schwer. Da hatte sie Mühe, einen Fuß vom Boden abzuheben, um ihn dann wieder aufzusetzen. Es war sehr schwer für sie, und sie spürte selbst, wie sie unter einem wahnsinnigen Druck litt.
    Ihr Gesicht zeigte keinen Ausdruck mehr. Es war einfach blaß und starr geworden.
    Andere Kräfte versuchten, sie zurückzuhalten. Da hatte sich etwas um ihre Beine gelegt, das ihr vorkam wie ein Tentakel aus Schaumstoff, der sich nie richtig um die Waden wickeln würde, weil zwei Seelen in ihrer Brust kämpften.
    Einbildung, redete sie sich ein. Das ist alles nur Einbildung. Zeig Stärke. Reiß dich zusammen.
    Denk an früher. Denk daran, was du einmal gewesen bist und versuche, das wieder zurückzuholen.
    Nur dann kommst du durch, nur dann.
    Und sie ging weiter.
    Vier Schritte trennten sie noch von dem Jungen. Alles andere war für sie nicht mehr vorhanden.
    Man hätte sie ebensogut an den Nordpol stellen können, es hätte zum Kölner Bahnhof keinen Unterschied gemacht. Die Umgebung war uninteressant geworden.
    Einen letzten Schritt ging sie vor. Dann blieb sie stehen. Der Junge war jetzt gut zu sehen. Sie konnte sogar Einzelheiten in

Weitere Kostenlose Bücher