0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
eine von ihnen?«
Dagmar schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Nein, sie war bestimmt keine von ihnen, obwohl man sich da auch täuschen kann. Es ist gut, daß wir jetzt fahren.«
»Und die Frau?«
»Ich werde für sie sorgen. Man darf sie so schnell nicht finden.« Dagmar ließ den Jungen los. Sie schaute über den Bahnsteig hinweg nach vorn. Da sie und der Junge fast an seinem Ende standen, hielten sich hier keine Reisenden auf. Weiter vorn jedoch, wo der Zug aus Amsterdam einfahren würde, hatten sich schon einige Reisende versammelt, denn in wenigen Minuten würde er einlaufen.
Bis dahin mußte Dagmar alles erledigt haben.
»Du tust nichts, mein Lieber. Du hältst dich am besten zurück. Überlaß alles mir.«
»Ja, Dagmar.«
Die hochgewachsene Frau, deren Haar in der Dunkelheit des Bahnsteigs einen undefinierbaren Glanz bekommen hatte, wußte genau, was sie tat. Zudem gehörte sie zu den Menschen, die nicht so leicht die Nerven verloren. Ein rascher Rundblick zeigte ihr, daß sie auch von den Nachbarbahnsteigen nicht beobachtet wurde, dann erst bückte sie sich und packte die Leiche mit beiden Händen an.
Es machte ihr nichts aus, den starren Körper unter den Wagen zu schieben, als wäre er nicht mehr als eine alte Plane. Dort unten war das Versteck sicher. Da würde er in den nächsten Stunden bestimmt nicht entdeckt werden.
Elohim schaute zu. Er hielt den Kopf leicht gesenkt. Seine Augen hatten sich wieder normalisiert.
Das Weiße um die Pupillen herum war verschwunden. Vorhin hatte er seltsam geschaut, als hätte er etwas gesehen, das nicht in dieser Welt zu finden gewesen war, sondern in einer anderen Dimension, wo die normalen Naturgesetze aufgehoben worden waren.
Dagmar erhob sich wieder und rieb ihre Handflächen gegeneinander. »So«, sagte sie, wobei ihre Stimme zufrieden klang. »Das hätten wir geschafft, mein Junge.«
»Sollen wir jetzt gehen?«
Die Gouvernante lächelte. »Aber sicher doch. Der Zug wird bald einlaufen. Wir stellen uns dorthin, wo auch die anderen warten. Unser Abteil ist reserviert.«
»Gern, Dagmar. Eigentlich ist es schade um sie, wenn sie nicht zu den anderen gehörte.«
»Was soll es dich kümmern? Denk immer daran, daß du etwas Besonderes bist.«
»Wie mein Vater?«
»Ja, wie dein Vater.«
Die Erinnerung an ihn ließ den Jungen aufseufzen. Dann spürte er, wie Dagmar nach seiner Hand faßte und einen leichten Druck ausübte. Mit der anderen hatte sie den Bügel der großen Reisetasche umfaßt, und so gingen zwei Menschen, die aussahen wie Mutter und Sohn, gemeinsam den Bahnsteig entlang.
Der Zug rollte bereits in den Bahnhof ein. Sie sahen das Licht an der Lok, die hinter sich eine Schlange aus Schlafwagen herführte.
Dröhnend rollte das Ungetüm über den Gleiskörper. Wind schwappte über Dagmar hinweg. Dagmar hielt den Jungen noch immer fest. Sie hatte ihren Kopf leicht erhoben und schaute nach vorn, auf die Wagen des Zuges.
Ihre Gedanken jedoch bewegten sich in eine ganz andere Richtung. Sie dachte an die lange Fahrt durch die Nacht. Sie dachte an die Verfolger, und sie wußte, daß ihnen auch der Zug keine Sicherheit bot.
Bestimmt würde noch etwas passieren, bevor sie ihr Ziel hoffentlich gesund erreichten.
Es lag in der Schweiz, im oberen Engadin, nur wenige Kilometer von St. Moritz entfernt.
Pontresina hieß der Ort…
***
Schnee, ein lupenreiner, blauer Himmel, dazu Berge wie gemalt, eine noch intakte Umwelt, wenigstens war das Gegenteil angeblich noch nicht bewiesen worden, Sonne am Himmel, der durch sie noch einen, zusätzlichen Glanz bekam, ein Wetter zum Skifahren, zum Faulenzen oder einfach nur, um durch den Schnee zu wandern.
Urlaub total!
Und das für mich, John Sinclair, Geisterjäger, Oberinspektor und Junggeselle in einem.
Das war kaum zu fassen.
Eine Woche mal locker sein, eine Woche im Schnee, hoffentlich sieben Tage Sonne.
Das hatte der Wetterbericht versprochen, und ich hatte beschlossen, ihm zu trauen.
Jetzt wird sich natürlich jeder Leser fragen, wie ich an den Urlaub gekommen war?
Ganz einfach. Da war jemand gewesen, der mir einen Stoß gegeben hatte. Eine Frau, deren Faszination mich immer wieder in den Bann zog. Sie hatte mich angerufen und mir erklärt, daß sie mit mir nach Pontresina, in die Nähe von St. Moritz, fahren wollte.
Ich hatte zugestimmt.
Spontan und weil ich es leid bin, hinter Dämonen und anderen Wesen herzujagen. Sollten mir doch der Teufel und seine Vasallen ebenso gestohlen bleiben
Weitere Kostenlose Bücher