0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick
der Flasche in meine Handfläche und betrachtete den Rücken der Frau, der mir wie modelliert vorkam. Als ich damit anfing, die kühle Flüssigkeit zu verteilen, bekam sie eine Gänsehaut und lachte leise auf. »Ja, Herr Sinclair, das tut gut. Das ist wunderbar.«
»Sagen Sie ruhig John zu mir.«
»Dann bin ich Franca.«
»Gern.«
Ihre Steghose behielt sie an. Ich traute mich auch nicht, sie zu bitten, sie auszuziehen. Zudem dachte ich an Jessica Long. Wenn sie jetzt zurückkehrte und mich dabei erwischte, wie ich eine fremde Frau eincremte, würde sie bestimmt begeistert sein.
Deshalb beeilte ich mich auch und hörte hin und wieder ein sanftes Schnurren, als würde eine Katze neben mir liegen und sich wohlig entspannen. »Sie machen das hervorragend, John, wie ein Profi. Haben Sie Ihre Erfahrungen gesammelt?«
»Nein, ich bin ein Naturtalent.«
»Toll, daß es so etwas gibt.«
Ich hatte noch einmal einen Tropfen Creme nachgeschoben und ihn auf dem Rücken verteilt. Jetzt war sie dort geschützt, wo sie hatte eingecremt werden wollen.
Schwungvoll drehte sie sich wieder herum, als ich die Flasche zuschraubte. Dabei rückte sie die Sonnenbrille hoch und lächelte mich an. Ich hatte das Gefühl, als wollte sie mir ihre Augen bewußt nicht zeigen. Irgendwie strahlte diese Person etwas Geheimnisvolles ab, mit dem ich nicht so leicht fertig wurde.
»Danke, John.«
»Keine Ursache. Das habe ich gern gemacht.«
»Ich werde mich heute abend an der Bar revanchieren.« Sie räusperte sich. »Ich will ja nicht indiskret sein, aber wie lange haben Sie vor, hier in Pontresina zu bleiben?«
»Nur eine Woche.«
»Das ist kurz.«
»Ich weiß.«
Sie lachte und fuhr durch ihr Haar. »Aber ich bleibe auch nicht länger. Sieben Tage ausspannen, das tut mal ganz gut.« Sie drehte den Kopf zur anderen Seite, zum Hotel hin und legte sich wieder hin.
Auch ich schaute gegen die Rückseite.
Vor der mächtigen grauen Fassade stand eine Frau, die zu uns hinüberschaute.
Es war Jessica Long!
Ich wußte nicht, wie lange sie sich dort schon aufgehalten hatte, aber ich bekam einen roten Kopf, hörte auch, wie Franca fragte: »Gehört die Dame zu Ihnen?«
»Ja.«
»Gratuliere.«
»Wieso?«
»Sie ist sehr hübsch und auch sehr interessant, schätze ich.«
»Da kann ich nicht widersprechen.« Ich erhob mich und winkte Jessica zu.
»Bis heute abend, nicht?« sagte Franca zum Abschied.
»Natürlich.« Ich warf einen Blick auf ihr Gesicht und sah wieder das geheimnisvolle Lächeln auf ihren Lippen, das ich irgendwie nicht einordnen konnte.
Benahm sich so eine normale Frau. Oder lief da wieder etwas in die verkehrte Richtung?
Nein, um Himmels willen nicht. Ich wollte meine Ruhe haben und nichts von irgendwelchen Fällen hören.
Jessica erwartete mich. War Franca der Traum in Schwarz, war sie der Traum in Rotblond. Zudem stand sie ziemlich günstig. Das Licht der Sonne streichelte ihr Haar und badete es in seinem Schein.
Es zauberte zahlreiche Reflexe auf die breite Pracht, die bis zu den Schultern fiel, denn Jessica trug das Haar offen. Die blaue Parkajacke stand ihr ausgezeichnet. Sie war von innen ebenso mit Fell gefüttert wie die Kapuze. Die weiße Hose endete in blauen Schuhen, halbhoch, ebenfalls mit Fell gefüttert. Für einen Moment kam mir der Verdacht, als stünde die Herrin vor ihrem Schloß, denn die Rückseite des Hotels wies diese Eigenschaft auf. Sie hielt die Hände in den Taschen vergraben und lächelte mir zu. »Na, hast du dich gut amüsiert?«
Ich mußte blinzeln, weil ich die Sonnenbrille abgenommen hatte. »Wie kommst du darauf?«
»Wer dich mit einer derartigen Aufgabe betraut, der kann sich nur amüsieren.«
»Ich konnte die Bitte eben nicht abschlagen.«
»Aha.«
»Eifersüchtig?« fragte ich.
Sie senkte den Blick und verwandelte ihn in einen Vorwurf. »Ich bitte dich, John, wo denkst du hin. Es war nur eine ganz normale Frage, mehr nicht.«
»Und die Frau war ein normaler Hotelgast.«
»Ich sah sie bereits gestern abend.«
»Und weiter?«
Jessica schob die Unterlippe vor. »Nichts weiter. Sie fiel mir nur auf, das ist alles.«
Ich drehte mich um. Franca hatte sich wieder hingelegt, um Sonnenlicht zu tanken. Mein Blick glitt über sie hinweg und verfing sich an den schneebedeckten Graten der Berge. Die Luft war so wunderbar, die Landschaft stand in einer seltenen Klarheit vor meinen Augen, als wäre sie extra für mich hingestellt worden.
»Eigentlich wollten wir ja einen kleinen
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