0743 - Die Kinder des Adlers
namenlosen Ort zu verlassen und tiefer in den Urwald vorzustoßen. Unterdessen streifte Nicole durch die engen Gassen des Ortes und suchte nach irgendeiner Art von Spur.
Der Weg war mit Unrat bedeckt. Der Gestank von verfaulten Lebensmitteln und Fäkalien lag wie ein Dunst über den Hütten. Fette schwarze Fliegen spritzten bei jedem ihrer Schritte auf und sanken als dunkle Wolke hinter ihr wieder zu Boden.
Während sie Schritt vor Schritt setzte, fragte sie sich, ob sie sich in diesem Moment nicht selbst belog. Die Sorge um ihren Lebensgefährten brachte sie fast um den Verstand, und sie leugnete einfach die Tatsache, dass sie um die halbe Welt gereist war, nur um festzustellen, dass sie nicht wusste, wie alles weitergehen sollte.
Ihr Weg führte sie in eine Art Vergnügungsviertel. Hier waren die Hütten und Baracken größer. Handgemalte Schilder priesen die Vorzüge der Tänzerinnen, die in den Etablissements auftraten. Der fade Mief von billigem Bier und scharfem Schnaps drang aus den Eingängen. Lärmende Stimmen zeigten Nicole, dass auch um diese Zeit schon Betrieb in den Kaschemmen herrschte.
Es war eine Welt der Männer - genauer der betrunkenen, schwankenden, blöde stierenden Männer, die sich zur nächsten Schnapsquelle arbeiteten oder lallend im Schlamm lagen. Aus diesem Grund wurde Nicole auch sofort aufmerksam, als sie plötzlich eine Frauenstimme hörte. Sie konnte die Worte nicht verstehen, aber ohne Zweifel gab es einen Streit, denn jetzt antwortete ein Mann. Und die Drohung in seiner Stimme brauchte keine Worte. Nicole sah das Paar im Schatten eines Vordachs.
Sie hatte weder Absicht noch Anlass, sich in einen Streit von Fremden zu mischen. Trotzdem verlangsamte sie den Schritt und beobachtete unauffällig die Szene.
Zuerst konnte sie nur Schatten erkennen, dann sah sie eine junge Frau, die fortlaufen wollte und von dem Mann brutal zurückgehalten wurde. Und dann entdeckte sie die Adlertätowierung am Oberarm der Frau und wusste, was sie zu tun hatte.
Sie war mit einigen Schritten unter dem Vordach. Die junge Frau, eine Indianerin, wand sich unter dem schmerzhaften Griff des Mannes. Sie wimmerte, versuchte aber trotzdem, sich mit zu Krallen gekrümmten Fingern zu wehren.
»Lass sie los«, schrie Nicole.
Der Mann verstand kein Wort. Worte waren in dieser Situation auch unnötig. Ein arrogantes Grinsen ging über das pockennarbige Gesicht des Kerls, der Nicole Duval um mehr als Haupteslänge überragte. Er riss die Indianerin mit der einen Hand an sich, mit der anderen schlug er der Frau ins Gesicht, sodass sie halb betäubt zu Boden sank.
Nicole Duval beschloss, angesichts der Umstände die Sache mit der schnellen Variante zu erledigen. Sie schätzte in den wenigen Sekunden, die ihr bis zur Attacke blieben, den Angreifer ein. Der Mann hatte große Kräfte, er war brutal, überheblich und skrupellos, er war angetrunken und hielt Frauen für eine Art von sprechenden Haustieren. Es war die Sorte, mit der Nicole wenig Probleme hatte.
Sie wartete ab, bis er wieder mit der flachen Hand zuschlagen wollte, während die andere Hand nach ihr packte.
Geschickt wich sie dem pfeifenden Schlag aus, dessen Luftzug sie im Nacken spüren konnte. Dann blockte sie den anderen Arm ab und landete einen Tritt gegen das Knie das Mannes.
»Schönen Gruß an den Orthopäden«, quetschte Nicole zwischen den Zähnen heraus, als das Gelenk krachte. Der Mann knickte ein und fiel zu Boden. Er wollte schreien, aber ein Tritt in den Unterleib presste ihm alle Luft aus den Lungen und stellte ihn ruhig. Nicole blieb genug Zeit, die Frau vom Boden hochzureißen und mit ihr über die Gasse zu fliehen, bevor sie Aufsehen erregten.
Die Indianerin war immer noch leicht benommen. Sie roch nach einem billigen Parfüm, das sie ebenso wie ihr schrilles Make-up und ihr buntes Kleid als Flittchen charakterisierte. Aber mit jedem Schritt gewann die junge Frau wieder an Sicherheit.
Hinter ihnen erklang Lärm. Wütendes Grölen rollte wie eine schmutzige Flutwelle durch die Budengassen, es gab einige Schüsse, mit denen wohl weitere Hilfe gerufen werden sollte.
Nicole schaute sich um. Sie erkannte, dass sie in einer Falle steckten. Der Weg vor ihnen führte mit leichter Biegung weiter. Es gab keine Möglichkeit, sich in eine Nebengasse zu schlagen.
Jetzt kamen die ersten Männer hinter einer Baracke in Sicht.
Sie entdeckten ihre Opfer, schrien, deuteten auf die fliehenden Frauen und warfen sich voller Eifer vorwärts. Wesentlich
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