0759 - Eiswüste Alaska
sofort. Er kannte diesen Park so gut wie irgendeiner. Trotz der wehenden Schneefahnen fiel es ihm leicht, sich anhand der eisüberzogenen Bäume zu orientieren. In der Richtung, die Cuddly andeutete, lag ein Fischerei-Kombinat, das Plankton und Algen zu Konzentratnahrung verarbeitete.
Die versandbereiten Vorräte lagerten in Riesenhallen. Es gab dort Nahrung für wenigstens einhundert solcher Meuten.
„Ich weiß, was du willst, Cuddly", sagte Bluff voller Ernst. „Aber du mußt noch ein wenig Geduld haben. Zuerst will ich ins Heim!"
Der Grauschwarze gab seinen Widerstand auf. Als Bluff in Richtung des Heims durch den Schnee stapfte, folgte er ihm, und hinter ihm drein kam die ganze Meute, friedlich, einer hinter dem ändern, in der Spur, die der Junge bahnte.
Das Heim war in einem großen, schmucklosen Gebäude untergebracht, das - so wollte es das Gerücht - einstmals ein Stummhaus hatte werden sollen. Die Unruhe, mit der die Bevölkerung auf die Einrichtung der Stummhäuser reagierte, hatte die Regierenden jedoch veranlaßt, ihre Pläne zu ändern.
Aus dem Stummhaus war ein Heim für Aufzöglinge geworden.
Als Bluff Pollard zehn Jahre alt wurde, war er aus einem Kinderheim in Vancouver hierhergebracht worden.
Das Gebäude war rechteckig, von einem großen Hof umgeben, den wiederum eine hohe Mauer umschloß. In der Mauer gab es zwei breite Öffnungen, die durch eine Energiebarriere unpassierbar gemacht werden konnten. Bluff sah, daß es die Barrieren nicht mehr gab. Verwirrt und furchtsam trat er auf die Öffnung und wartete darauf, daß er von dem Pförtnerrobot angesprochen werde, der in eine Säule unmittelbar jenseits der Mauer eingebaut war. Aber die Säule blieb stumm. Bluff brauchte die Losung des Tages nicht zu nennen.
Halb benommen schritt er auf das Gebäude zu. Die Hundemeute folgte ihm. Das große Portal, zu dem zwei breite, steinerne Stufen hinaufführten, stand halb offen. Der Sturm hatte eine Menge Schnee nach drinnen geweht. Die Fenster waren finster. Im ganzen Haus brannte kein einziges Licht.
Plötzlich wußte Bluff Pollard, daß etwas Schreckliches geschehen war. Die Dunkelheit des Tunnels und der Baracken, das Stehenbleiben der Uhr, das Versiegen des Verkehrs auf der Straße... das alles waren Anzeichen einer ungeheuren Katastrophe, die die ganze Stadt, vielleicht sogar ganz Alaska, befallen hatte. Noch bevor er das Gebäude betrat, wußte er, daß er drinnen keinen einzigen Menschen finden würde. Sie waren alle fort, alle verschwunden. Nur er allein war noch übrig ... er und Cuddly und die Hunde.
Tränen traten ihm in die Augen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er weinte, ohne körperlichen Schmerz zu empfinden.
Eine merkwürdige Stimmung hatte von ihm Besitz ergriffen. Fast überkam es ihn wie Schwäche. Er fing an zu schwitzen, und die Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er trat langsam durch die offene Tür, scharrte ziellos mit den Füßen den Schnee beiseite und starrte in den breiten, finsteren Gang, der in die Tiefe des Gebäudes führte.
„Ratio...!" sagte er laut.
Das war die letzte Losung, an die er sich erinnerte. Vielleicht, so suggerierte ihm ein letzter Funke trügerischer Hoffnung, war doch noch irgend jemand hier. Vielleicht lebte doch noch einer der Zöglinge oder einer der Aufseher in den zahllosen Schlafsälen und Aufenthaltsräumen. Für diesen Fall war es besser, daß er die Losung bekanntgab. Denn das Vergessen der Losung oder das Betreten des Gebäudes ohne vorheriges Nennen der Losung wurde streng bestraft.
Aber nur das Echo der eigenen Worte kehrte aus dem leeren Gang zu ihm zurück. Da setzte er sich in Bewegung. Undeutlich erkannte er in der Finsternis die Vierecke der Türöffnungen, die in die Räume zu beiden Seiten des Korridors führten. Sämtliche Türen standen offen. Bluff wandte sich seitwärts, trat durch eine der offenen Türen und wiederholte hilflos, mit trockenem Würgen im Hals: „Ratio...!"
Aber da waren nur Stille und Finsternis. Er durchquerte den Raum, stieß gegen Bänke und Tische. Hier hatte er oft gesessen, zusammen mit anderen Zöglingen, und Nahrung zu sich genommen, oder sich auf den Unterricht im Pionierzentrum vorbereitet. Damals, als diese Dinge noch Wirklichkeit waren, hätte er nie vermutet, daß er sich eines Tages mit Wehmut an sie erinnern würde.
Jetzt aber war ihm ganz unaussprechlich zumute. Er sank in die Knie. Er barg das Gesicht in den Händen und weinte ...
Lange Zeit ließ er den Tränen
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