076 - Die Jenseitskutsche von Diablos
passierte genau an meinem Geburtstag. Ich
hatte mir ein Tretauto gewünscht und wollte damit durch die ganze Stadt fahren.
Es sollte rot sein und eine richtige Windschutzscheibe haben. Ich wollte es
auch jeden Tag benutzen, versprach es jedenfalls meiner Mutter. Ich bekam mein
Tretauto und war völlig aus dem Häuschen. Den ganzen Tag fuhr ich damit draußen
herum. Ich erinnere mich noch wie heute. Es war so ein schöner warmer Maitag
wie dieser. Aber er endete furchtbar und zum ersten Mal in meinem Leben bekam
ich zu spüren, was Grauen ist...«
Guillas war stehengeblieben und starrte auf den Boden.
Er scharrte mit der rechten Schuhspitze auf dem festgetretenen Weg. Dann fuhr
der junge Mann fort.
»Ich durfte fahren, bis es dunkel wurde. Meine Mutter
hatte mich um zwei Dinge gebeten: Erstens durfte ich auf keinen Fall den
Bürgersteig verlassen, um mit den richtigen Autos auf der Straße zu
konkurrieren, und zweitens musste ich bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause
sein. Beides versprach ich. Stolz raste ich mit meinem neuen Spielzeug die
Straße vor unserer Wohnung auf und ab. Dann wurde ich schon mutiger und
erforschte die Nachbarstraßen. Ungefähr siebenhundert Meter von unserer Wohnung
entfernt befand sich ein altes Fabrikgebäude, von dem nur noch die Grundmauern
standen. Dieses Gebäude wollte ich, kurz vor dem Dunkelwerden, noch umrunden
und dann nach Hause rasen. Doch es kam anders... Ich war mit meinem Auto unter
der Absperrung durchgefahren und nahm mir fest vor, auf dem schwierigen,
holprigen Boden eine Rallye zu fahren. Wie ein Verrückter trat ich in die
Pedale. Das kleine Auto hüpfte über den aufgeworfenen Boden, durchfuhr
Wasserpfützen, und ich war stolz von der Leistung, die es und ich vollbrachten.
Endlich erreichte ich die gegenüberliegende Seite des zum Abbruch vorgesehenen
Gebäudes. Die Außenmauern ragten steil in die Höhe. Sie wirkten dunkel und
bedrohlich auf mich, und ich musste daran denken, dass sie jeden Augenblick
umfallen und mich unter sich begraben könnten. Umso mehr strengte ich mich an,
mein Tempo zu steigern, um so schnell wie möglich das riesige Rechteck zu
umfahren. Da merkte ich, dass ich keinen Boden mehr unter den Rädern hatte. Das Tretauto schwebte in die Höhe, auf
die riesige, baufällig und düster aussehende Mauer zu, in der die
ausgebrochenen Fenster wie tote Augen wirkten. Im ersten Moment glaubte ich zu
träumen. Dann war ich überzeugt davon, dass ich ein Wunderauto zum Geburtstag
geschenkt bekam. Ich jubelte und jauchzte. Ich hatte ein Auto, das fliegen
konnte! Es flog direkt auf die hohe Mauer zu. Die Erde fiel unter mir zurück.
Ich stieg immer höher. Dann rumpelte es. Mein fliegendes Wunderauto krachte
gegen den oberen Mauerrand und brach in der Mitte auseinander. Unbeweglich lag
es da. Ich hockte in den wankenden Wrackteilen und bekam es mit der Angst zu
tun. Ich kroch vorsichtig heraus und starrte aus der Höhe nach unten. Ich
befand mich auf der Mauerkante. Die lag rund fünfzehn Meter vom Boden entfernt.
Aus der Ferne sah ich die Scheinwerfer der Autos auf den Straßen und hörte
deren Motorengeräusche. Inzwischen war es dunkel geworden, und ich musste an
meine Mutter denken. Sie würde sich Sorgen um mich machen. Ich war nicht
pünktlich nach Hause gekommen! Irgendwo dort unten, weiter vorn auf der Straße,
die ich aus luftiger Höhe beobachten konnte, war zwischen den Passanten meine
Mutter und suchte mich. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich ahnte, dass es so
war. Ich schrie wie am Spieß und klammerte mich wie eine Affe mit Armen und
Beinen an der Mauerkante oben fest. Es ging mir schlecht. Mir war schwindlig,
und ich fürchtete mich davor, in die Tiefe zu stürzen. Die beiden Hälften des
Tretautos waren diesen Weg schon längst gegangen. Irgendwo unten in der
Dunkelheit zwischen den Trümmern lagen sie. Ich harrte eine Stunde aus, eine
zweite... Meine Kräfte ließen nach. Ich stand Höllenängste aus und schrie noch
immer. Aber in all dem Straßenlärm hörte mich kein Mensch. Plötzlich kam eine
einsame Frau die Straße entlang, ging bis zur Grenze des Abbruchgebäudes und
rief meinen Namen. Meine Mutter war gekommen! Ich schrie zurück, so laut ich
konnte. Sie stutzte, blickte sich um und kam näher. Sie vernahm meine Stimme
aus der Höhe, schaute nach oben und konnte nicht fassen, als sie mich auf der
zum Abbruch bestimmten Mauer liegen sah. Fünfzehn Meter hoch! Es gab keine
Treppe, keine Leiter, keinerlei Schuttberge, auf denen ich
Weitere Kostenlose Bücher