077 - Die Hexe von Andorra
Ecke hervor; ihr Fell sträubte sich, als sie Julio anfauchte.
„Ich muß wissen, ob die Beschuldigungen wahr sind, die gegen dich vorgebracht werden", verteidigte sich Julio, während er langsam vor der Katze und dem Mädchen zurückwich, die ihm beide wie sprungbereite Raubtiere gegenüberstanden. „Ich muß es wissen, ob meine Gefühle zu dir echt sind oder ob du mich nur verhext hast. Bist du eine Hexe, Sixta?"
„Wie kommst du darauf?" fragte das Mädchen zurück und blies die gelben Kerzen aus.
Es wurde schlagartig dunkel. Nur die Augen des Mädchens und der Katze waren als glühende Punkte zu sehen. Sixtas Augen glühten rot, die der Katze gelb, schwefelgelb.
„Hattest du je eine Veranlassung, an meiner Liebe zu dir zu zweifeln, Julio?" fragte Sixta. „Ich habe dir alles gegeben, was ich zu geben hatte. Meine Gefühle zu dir sind ehrlich. Wie kannst du nur daran zweifeln?"
„Bist du eine Hexe?"
Julio hatte sich vollends aus ihrem Bann befreit. Er sah sie jetzt mit anderen Augen. Im Mondlicht, das durch das Fensterviereck fiel, sah er eine reizlose Gestalt, die in Lumpen gekleidet war; das Gesicht war verschmutzt, die Haare waren verfilzt, zerrauft und standen in Strähnen unordentlich vom Kopf ab.
Ein Seufzen entrang sich ihrer Kehle. Sie schien in sich zusammenzufallen, während sie die Schultern kraftlos sinken ließ.
„Ich - ich bin anders als die anderen, Julio“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich habe das schon als Kind gespürt. Aber - noch nie hat mich jemand eine Hexe genannt, obwohl dort, wo ich aufgewachsen bin, die Leute nicht immer gut zu mir waren. Deshalb bin ich ausgerissen und nach Andorra gekommen. Ich bin einem inneren Drang gefolgt. Es überkam mich wie ein Wandertrieb. Und als ich hierher kam, da wußte ich, daß ich an meinem Ziel angelangt war. Ich bin sicher, daß es mich hierher trieb, weil wir beide füreinander bestimmt sind. Eine Macht, die viel stärker ist als wir beide, hat uns zusammengebracht. Ich habe dich gefunden, Julio, und das war alles, was ich wollte."
„Du lügst!" schleuderte er ihr entgegen. „Du kannst nicht lieben, denn du bist eine Hexe. Und ich bin nur eines von deinen unzähligen Opfern. Ich bin auch nicht der Grund, warum du nach Andorra gekommen bist. Man sagt, daß Hexen in gewissen Abständen immer wieder zum Schauplatz ihres Wirkens zurückkehren."
Das Mädchen schluchzte auf. Er sah, daß ihr Körper wie unter Krämpfen geschüttelt wurde. Die Katze schmiegte sich an ihre Beine und schnurrte, als wollte sie sie trösten.
„Was habe ich dir nur getan, daß du so grausam zu mir bist, Julio?" fragte das Mädchen schließlich mit leiser Stimme. „Es stimmt, ich bin nicht deinetwegen gekommen. Ich weiß, daß ich hier geboren wurde. In meiner Erinnerung sind schreckliche Bilder, die mit meinen Eltern zusammenhängen, die ich aber nicht deuten kann. Ich habe die Gabe, manchmal Dinge zu sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Bisher ist es mir jedoch noch nicht gelungen, das Rätsel meiner Vergangenheit zu lösen. Alles, was damit in Zusammenhang steht, bleibt im unergründlichen Dunkel - bis auf die Schreckensbilder, die von unaussprechlicher Qual, Tod und Verderben künden."
„Es ist also wahr", brachte Julio hervor. „Mit deinen Worten hast du selbst bestätigt, was man mir erzählt hat."
„Mit wem hast du über mich gesprochen?" fragte das Mädchen ängstlich.
Julio lachte ungestüm.
„Das überrascht dich, was, du Hexe, daß dein Zauber nicht nach Wunsch gewirkt hat. Jetzt wirst du deine gerechte Strafe bekommen. Auf dem Scheiterhaufen wirst du brennen. Und glaube ja nicht, daß es so etwas im 20. Jahrhundert nicht mehr gibt."
Julio verstummte, als er draußen Geräusche vernahm. Er blickte durch eine Fensteröffnung ins Freie. Dort waren Gestalten in Kutten aufgetaucht, die sich langsam der Hütte näherten.
„Warum hast du das getan, Julio?" fragte das Mädchen und wollte sich an ihn klammern.
Aber er stieß sie von sich.
„Lebewohl, Sixta!" sagte er und wandte sich der Tür zu. „Ich überlasse dich jetzt deinem Schicksal." „Nein, Julio!" rief sie ihm nach. „Bleibe hier! Ich spüre die Grausamkeit dieser Männer und weiß, daß sie auch mit dir kein Mitleid kennen. Geh nicht hinaus! Wenn du bei mir bleibst, dann werden sie dich nicht finden."
Julio stieß die Luft abfällig aus und stürzte durch die Tür ins Freie - geradewegs in die Arme der Kapuzenmänner. Trotz seiner Unschuldsbeteuerungen drehten
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