0776 - Racheengel Lisa
dass sie die Unschuld bewahren müsse, weil sie eben etwas Besonderes war. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich daran gehalten.
Den Pfahl steckte sie wieder weg. Sie rammte ihn hinten in ihren Gürtel hinein. Zwar spannte die Hose jetzt sehr stark, doch es kümmerte sie nicht. So behinderte die Waffe sie nicht bei ihrer Arbeit. Sie hätte sich auch keine bessere Waffe wünschen können, denn gerade dieser Pfahl war es, der sie so unberechenbar machte. Wer rechnete schon damit, umzukommen wie ein Vampir?
Das sah Lisa als Zeichen an.
Sie hasste Vampire. In ihrer Kindheit hatte sie Geschichten darüber gelesen. In einer Geschichte war einer dieser schlimmen Blutsauger von einem aus dem Himmel herabschwebenden Engel getötet worden. Er hatte einen vergoldeten Pfahl in der Hand gehalten und den Vampir damit aufgespießt. Sie lächelte, als sie an diese Geschichte dachte, die so gut ausgegangen war. Von diesem Tag an hatte sie die Story nicht losgelassen, besonders verliebt war sie in die Waffe gewesen. Als ihre Zeit dann nahte, hatte sie sich ebenfalls einen Pfahl zugelegt, nur war dieser leider nicht vergoldet.
Sie musste die Leiche zur Seite schaffen.
Das wiederum ärgerte sie. Aber Lisa dachte auch realistisch. Es war noch nicht dunkel und durchaus möglich, dass sich noch Besucher auf dem Gelände aufhielten. Sie sollten nicht zu früh über den Toten stolpern. Am besten wäre es ja gewesen, wenn sie ihn vergraben hätte, nur hatte sie kein offenes Grab mehr auf ihrem Weg entdeckt. Schade, eigentlich. Sie hätte es auch noch zugeschaufelt.
Lisa packte den Toten unter den Achseln an und schleifte ihn über den Weg. Seine Hacken hinterließen Spuren in der Erde, der Himmel über ihr sah noch düsterer aus, als wollte er ihr Schutz vor irgendwelchen Entdeckungen geben. Aber sie wusste, dass hinter dieser schiefergrauen Düsternis die Sonne leuchtete und eine Welt lag, die sie beschützte.
Eine Familiengruft kam ihr gerade recht. Sie war mit einem sehr breiten Grabstein bestückt worden, und hinter dieser Platte würde der Tote seinen Platz finden.
Sie legte ihn dort nieder und winkelte noch dessen Beine an, sodass nichts hervorschauen konnte.
Jetzt erst war sie zufrieden. Über den Grabstein schaute sie hinweg, um zu sehen, ob es irgendwelche Zeugen gegeben hatte, die sich erst jetzt aus ihrer Deckung trauten.
Es war niemand da.
Es kam auch keiner.
Sie freute sich und schritt quer über das große Grab hinweg. Jetzt konnte sie in aller Ruhe beim Grab ihrer Mutter stehen bleiben, um mit ihr stumme Zwiesprache zu halten. Ihre blassen Lippen zeigten ein dünnes Lächeln, als sie daran dachte. Sicherlich würde sie von ihrer Mutter eine Menge Lob empfangen, denn sie hatte ihre Aufgaben wieder erfüllt. Alle konnten zufrieden sein, und der Himmel würde das Glück auf sie niederstreuen.
Sie hielt ihr Gesicht in den Wind und spürte ihn wie eine Liebkosung auf der Haut. Er trocknete den Schweiß und auch die Tränen, die sie vor Glück vergossen hatte. Sie sah die Blutflecke auf dem Boden, doch als solche waren sie nur bei sehr genauem Hinsehen zu erkennen. Es konnte auch etwas anderes sein, doch darüber machte sie sich keinerlei Gedanken. Am Fußende der Grabstätte blieb sie stehen und schaute gegen den Stein. Sie konnte die Schrift darauf gerade noch lesen, und wieder ärgerte sie sich über das Phlegma ihres Vaters, der es nicht für nötig gehalten hatte, das Grab ordentlich zu pflegen. Sie würde mit ihm später darüber reden, und sie erwartete auch die entsprechenden Antworten.
»Mummy…« Ihre Lippen formten das eine Wort. Es sollte ein Ruf sein, obwohl sie das Wort nur geflüstert hatte. »Mummy, hörst du mich? Ich … ich habe getan, was du wolltest, aber jetzt bin ich allein, so schrecklich allein.« Lisa bewegte unruhig ihre Hände. Sie verknotete die Finger ineinander und lauschte dem Echo der eigenen Stimme nach, die bei den letzten Worten ziemlich jämmerlich geklungen hatte.
Lisa war wieder zurückgeglitten in die Zeiten der Kindheit, und sie wünschte sich, dass die Mutter sie lobte und ihr erklärte, wie gut sie gewesen war.
»Mummy…«
Abermals drang der Ruf wie ein Klang aus ihrem Mund. Sie bewegte sich auf der Stelle, sie spürte die innere Unruhe, und sie wünschte sich, dass ihre Mutter endlich Verständnis für sie zeigte.
Nur ein Zeichen sollte sie ihr geben, und ohne es eigentlich zu wollen, richtete sie ihren Blick gen Himmel, wo sie die grauen Wolken sah. Lisa hoffte darauf,
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