078 - Küss’ niemals Choppers Geisterbraut
Leben verloren hätte
und mich nun ganz in die Einsamkeit zurückziehen würde. In gewissem Sinn hatten
sie recht damit. Doch es war nicht die tote, sondern die lebende Aimee, die
mich veranlasste, das Haus nicht mehr zu verlassen. Ich wollte nur noch für sie
da sein und ihr helfen, den Schock zu überwinden, der ihr tief in den Knochen
steckte. Sie lebte, aber sie konnte sich nicht mitteilen. Der Schreck, in einem
Sarg zu erwachen, war so stark in ihr gewesen, dass sie die Stimme verloren
hatte. Vieles an ihr war verändert... Ihr Gehirn hatte eine Wandlung
durchgemacht. Wahrscheinlich schon durch Sauerstoffmangel davor. Sie hatte
schließlich einen Herzanfall gehabt. Ihre Körperabläufe waren so weit
herabgesetzt gewesen, dass man nicht mal mehr eine Herzfunktion hatte erkennen
können. Aimee war neugeboren, und wie ein Neugeborenes musste sie alles wieder
lernen. Stehen, gehen, essen und trinken und sprechen. Mühsam brachte ich ihr
Wort für Wort bei. Sie machte Fortschritte. Ich erkannte aber auch, dass sie
sich durch den Sauerstoffmangel des Gehirns und durch den Schreckzustand noch
mehr verändert hatte. Dinge, wie sie wahrscheinlich noch kein Wissenschaftler
in einem Fachbuch beschrieben hatte. Aimee, die mich nicht mehr erkannte und
nichts mehr über sich und ihre Herkunft wusste, konnte auffallend gut in der
Dunkelheit sehen. Sie bewegte sich darin mit der Sicherheit einer Katze. Doch
das war noch nicht alles. Sie entwickelte eine unvorstellbare Furcht davor, aus
dem Haus zu gehen. Als ich das erkannte, machte ich aus der Not eine Tugend.
Mir konnte Aimees Verhalten nur recht sein. Niemand wusste von ihrer Wiedergeburt. Jeder in der näheren Umgebung war überzeugt davon, dass ich nach dem
plötzlichen Tod meiner Frau allein lebte. Diesen Eindruck verstärkte ich durch
mein Verhalten. Ich lud niemand mehr ein, ich ging nicht mehr aus. Ich
veränderte mein Leben auch noch auf andere Weise. An manchen Tagen war ich
unterwegs, um altes Gerümpel, Spielsachen, Bilderbücher, Musikinstrumente und
was es dergleichen mehr gibt, anzuschaffen. Ich entwickelte mich zum
Stammbesucher von Antiquitätenläden und
Flohmärkten. Aimee, die sich nur noch als Mee bezeichnete, hatte eine
Schwäche für alte Dinge entwickelt. Ihre Augen leuchteten, wenn ich ihr etwas
mitbrachte. Je älter, desto besser! Was vor zwanzig Jahren begann, entwickelte
sich fast zu einer Manie. Mein Haus ist heute ein Trödlerladen, für
Außenstehende. Doch deren Meinung interessiert mich nicht. Ich hatte nur eins
im Sinn: Aimee glücklich zu machen in ihrer Einsamkeit und Abgeschiedenheit.
Sie war wieder Kind geworden und würde es bis zu ihrem wirklichen Ende diesmal
bleiben. Sie glaubt, dass sie neun Jahre alt ist. Bis dahin ist es mir
gelungen, ihren Geist wieder, den Umständen entsprechend, zu entwickeln. Dieses
Haus war ihre Welt, ihr Paradies. Draußen war die böse Welt, die sie nicht
sehen wollte, in die sie nicht gehen wollte. Nur manchmal, abends und in der
Nacht, warf sie einen Blick durchs Fenster in den dunklen Garten, oder
beobachtete die Lichter in den Nachbarhäusern. Aimees Metier ist die Nacht.
Seit ich sie damals aus dem Sarg holte, schlief sie stets am Tag und wurde mit
Beginn der Dunkelheit wach... Dass es mir jetzt gelungen ist, sie ins Bett zu bugsieren,
ist ein Kunststück, eine Dressur gewissermaßen. Sie arbeitet praktisch gegen
ihre wahre Natur. Aber Aimee ist folgsam wie ein Kind. Sie tut, zumindest wenn
ich es von ihr verlange, auch Dinge, die ihr gegen den Strich gehen. Dazu
gehört, dass sie jetzt, zur Zeit ihrer normalerweise größten Aktivität, auch
mal ins Bett geht. Es sind Fremde da. Ich habe mit ihnen zu sprechen. Das
akzeptiert sie... Das ist eigentlich auch schon alles.« Welch ungeheuerliche
Geschichte! Die Zuhörer waren erschüttert. Es war mehr als genug, was sie
gehört hatten. Dieses unglaubliche Schicksal sprach für sich. Da bedurfte es
keiner Fragen mehr. Zumindest keiner, die die Vergangenheit betrafen. Aber es
gab noch einige ungeklärte Punkte, die die Gegenwart angingen. »Zweimal in der
Woche verließen Sie aber stets dann, wenn Aimee oder Mee besonders aktiv
war, das Haus«, hakte X-RAY-3 nach. »Wohin fuhren Sie, Mister Wayer? Warum
gingen Sie stets dann weg, wenn eigentlich die Gefahr bestand, dass Ihr
besonderer Schützling, der so auf Sie angewiesen ist, sich aus dem Haus stehlen
konnte und damit zweimal mindestens in der Woche das Risiko bestand, dass Ihr
Geheimnis entdeckt wurde?«
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