0786 - Angst vor der Hexe
an sie herangekommen. An den Schakal dachte er nicht mehr, denn er stand weiter entfernt.
Weg von den Ratten!
Sie liefen durch die Mulde, glitten auf ihren Brettern dahin, was ihnen nicht leicht fiel, denn sehr bald schon begann der Muldenhang, den sie hoch mussten, um den Wald zu erreichen. Dort konnten sie sich möglicherweise zwischen den Bäumen verstecken.
Beide Kinder erreichten die schneebedeckten Bäume nicht mehr.
Sie waren keine geübten Langläufer, zudem kostete es zu viel Kraft.
Zugleich rutschten sie weg und zugleich schrien sie auf.
Und zugleich fielen sie zurück.
Zwei grotesk verzogene Körper. Die Bretter knallten zusammen, sie hatten sich ineinander verhakt, und dann tauchten sie ein in die weiche Schneemasse, als wäre sie ein weiches Meer, das alles verschlang. Die weiße Pracht geriet in Bewegung, sie stob in die Höhe.
Von der Oberfläche lösten sich Eisklumpen, und wie ein Regen fielen diese wieder zurück auf die beiden Kinder, die durch den Schnee rollten und sich dabei gegenseitig festhielten.
Dann lagen sie still.
Es war überhaupt nur still. Die Welt schien verschwunden zu sein, ein gewaltiger Wattebausch hielt sie umklammert, alles, was sie bisher erlebt hatten, lag so weit zurück, sie glaubten sogar, sich in die Höhe zu bewegen und wegzufliegen.
Bis sie das Rascheln, das Knirschen und Schaben hörten, das die zahlreichen Rattenfüße verursachten, als die Tiere mit heftigen Bewegungen über das Eis rutschten und plötzlich bei ihnen waren.
Die Kinder lagen auf dem Rücken, und die zur Ruhe gekommenen Tiere verdunkelten ihr Blickfeld.
Eine widerliche, zittrige, dunkle Masse hatte sie umkreist. Bösartige Tiere mit kleinen, grausamen Augen, aus denen ihnen der Hass entgegenfunkelte. Vor den Mäulern dampfte der Atem, und die Ratten sahen aus, als würden sie innerlich brennen. Es waren einfach zu viele. Eines war gewiss. Sie konnten ihnen nicht entkommen, die Ratten hatten sie erreicht und die Oberhand gewonnen.
Aber sie taten nichts, sie blieben ruhig. Die Kälte schien sie eingefroren zu haben. Amy und Davy lagen auf dem Rücken. Sie starrten in die Höhe.
Über sich sahen sie den Himmel, der allmählich einiges von seiner nachmittäglichen Bläue verlor und schon die graue Farbe des späten Tages bekam.
Beide konnten nicht sprechen, nur atmen. Schnell, stoßweise, als wollten sie damit ihre Angstschübe beweisen, die immer wieder in ihnen hochjagten.
Etwas knirschte. Sie hörten es sehr genau. Der Schnee schien das Geräusch doppelt so laut zu leiten, und beide wussten nicht, wer da kam, denn sie trauten sich nicht, ihre Oberkörper aus dem Schnee in die Höhe zu drücken. Bis sie den Schatten sahen. Er schwebte praktisch zwischen ihnen, er war langgestreckt und fiel wie ein schräg laufender Pfahl über die weiße Decke.
Das war nicht der Schatten eines Hundes oder eines Schakals, das war der eines Menschen.
Das Knirschen des Schnees hörte auf. Auch die Ratten bewegten sich nicht mehr. Sie hockten starr und gleichzeitig auch sprungbereit auf ihren Plätzen.
Es war kaum windig. Nur ein laues Lüftchen wehte. Trotzdem kam es den beiden zitternden Kindern so vor, als wäre es der Wind gewesen, der sprechen konnte, und die Worte einer etwas schrillen und kichernden Stimme an ihre Ohren trug.
»Ich habe euch…«
Amy und Davy verstanden die deutsche Sprache nicht, den Sinn dieser Worte konnten sie trotzdem begreifen, denn es lag ein widerlicher Triumph darin.
Das Mädchen wusste schon Bescheid. Es tastete nach Davys Hand.
»Das ist der böse Mann.«
»Ich… ich habe Angst.«
»Ich auch.«
Der böse Mann ging vor. Der Schatten bewegte sich. Die Kinder verfolgten ihn mit starren Blicken. Sie brauchten nicht einmal die Augen zu verdrehen, um ihn unter Kontrolle zu halten, zudem drehte er sich etwas zur Seite, so dass er jetzt zwischen ihnen stand.
Er war es.
Sie erkannten ihn.
Das heißt, Davy wusste sofort Bescheid, denn er hatte das Gesicht hinter dem Fenster entdeckt. Dieses böse alte Gesicht mit den kalten, grausamen Augen, der faltigen Haut und der Mütze auf dem Kopf, die vorn tief in die Stirn gezogen war.
Er hatte den Rand des Rattenkreises erreicht, beugte sich nach vorn und bewegte dabei seine Lippen.
Die Ratten gehorchten. Sie zogen sich nicht zurück, aber sie drückten sich zu beiden Seiten des Mannes auseinander. Für die Kinder sah es aus als würde der pelzige Teppich wandernd über den Schnee hinweggleiten.
Der Alte hatte freie Bahn.
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