079 - Die Abenteuerin
stattliche Erscheinung. Sie hatte aristokratische Gesichtszüge und schneeweißes Haar. Eigentlich war sie für das letztere noch nicht alt genug, und böse Leute erzählten auch eine Geschichte darüber, die nicht gerade sehr zu Mrs. Wilberforces Gunsten sprach.
Man sprach davon, daß sie sehr eitel war und den Schönheitssalon eines berühmten Kosmetikers aufsuchte, wo sie sich ihr Haar wieder goldblond färben lassen wollte. Aber es mußte wohl ein Fehler vorgekommen sein, denn es wurde scheckig und zeigte große grünliche und rötliche Flecken an einzelnen Stellen. Nach dieser katastrophalen Erfahrung ließ Mrs. Wilberforce sich das Haar einfach weiß bleichen.
Als sie zu ihrer Familie zurückkehrte, erklärte sie, daß ihr Haar in einer einzigen Nacht weiß geworden sei, und zwar aus Sorge um ihre Tochter Joyce. Diese junge Dame machte ihrer Mutter auch wirklich viel Kummer. Mrs. Wilberforce verstand den Charakter ihrer Tochter nämlich durchaus nicht, aber Joyce durchschaute ihre Mutter sehr gut.
Eines Morgens saßen sie in ihrem kleinen Wohnzimmer beim Frühstück. Mrs. Wilberforce schaute nachdenklich in den Hyde Park hinaus.
»Joyce«, sagte sie nach einiger Zeit, »hör gut zu, was ich dir zu sagen habe, und denk nicht wieder an andere Dinge.«
»Ja, Mutter«, erwiderte das junge Mädchen gehorsam.
»Erinnerst du dich an unser früheres Mädchen, das ich entlassen habe? Sie hieß Jane Briglow.«
»Ja, ich kann mich sehr gut auf sie besinnen. Du warst mit ihrem Auftreten außerordentlich unzufrieden.«
»Sie war zu hochmütig und glaubte Wunders, wer sie sei«, entgegnete die Mutter verärgert.
Joyce unterdrückte ein Lächeln. Es war eine feststehende Tatsache, daß ihre Ansichten niemals mit den Anschauungen ihrer Mutter übereinstimmten. Stets waren die beiden entgegengesetzter Meinung, selbst wenn es sich um kleine Dinge handelte. Und ihre Mutter sprach nicht zum erstenmal mit ihr über Jane Briglow.
»Jane war ein gutes Mädchen«, sagte Joyce anerkennend. »Allerdings ein wenig romantisch veranlagt. Sie liebte sensationelle Bücher, aber sonst war sie ein sehr anständiger, ja liebenswürdiger Charakter.«
Mrs. Wilberforce warf den Kopf zurück. »Ich freue mich, daß du so über sie denkst.«
Joyce blickte schnell auf. »Warum sagst du das, Mutter?«
»Ist dir noch nicht aufgefallen, daß diese Einbrecherin, von der man in der letzten Zeit soviel in den Zeitungen liest, auch Jane heißt?«
Joyce lachte. »Der Name kommt doch häufig vor!«
»Aber sie verübt ihre Verbrechen fast immer an Leuten, die wir persönlich kennen - zum Beispiel an Lord Claythorpe.« Mrs. Wilberforce schauderte. »Ich muß ja wirklich sagen, daß du deinen Verlust sehr ruhig erträgst. Immerhin hat sie die Halskette im Wert von fünfzigtausend Pfund gestohlen, die der Lord als Geschenk für dich bestimmt hatte.«
»Die hatte er doch nur gekauft, um mir mein Opfer zu versüßen«, entgegnete Joyce ironisch.
»Ach, rede doch nicht solchen Unsinn! Wie kannst du nur von einem Opfer sprechen, wenn du den Sohn und Erben von Lord Claythorpe heiraten sollst. Und bedenke doch, daß Lord Claythorpe der beste Freund deines verstorbenen Onkels war!«
»Auf jeden Fall ist er nicht mein bester Freund«, erwiderte Joyce aufgebracht. »Wenn man mit einem jungen Mann zusammen aufgewachsen ist und ihn gewissermaßen als Bruder betrachtet, ist das noch lange kein Grund, ihn zu heiraten. Im Gegenteil - ich bin überzeugt, daß das direkt eine Torheit wäre. Niemand kann mir Schwachheit vorwerfen, aber ich würde tatsächlich jede Selbstachtung verlieren, wenn ich mich in dieser Weise verkuppeln ließe.«
Mrs. Wilberforce schluckte ihren Ärger hinunter und zwang sich zur Ruhe.
»Aber ein Mädchen wie du, das sonst gar keine Aussichten hat, sich einmal reich zu verheiraten, sollte sich doch nicht so störrisch und widerspenstig benehmen. Meiner Meinung nach ist es absolut kurzsichtig, eine solche Heirat auszuschlagen.«
»Es handelt sich nicht darum, daß ich eine Heirat ausschlage«, erklärte Joyce nach einer ziemlich langen Pause. »Es handelt sich hier nur darum, daß ich Francis nicht heiraten mag.«
Sie ging durch das Zimmer und nahm die Fotografie eines jungen Mannes, die in einem silbernen Rahmen steckte, an sich. Es war ein Bild von Francis Claythorpe.
»Und ich bin davon überzeugt, daß ich recht habe!«
Mrs. Wilberforce schwieg.
»Außerdem möchte ich wissen, warum gerade ich nicht jemand heiraten darf, der
Weitere Kostenlose Bücher