079 - Die Abenteuerin
haben, denn es sah immer bedrückt und traurig aus. Einmal hatte das Mädchen auch rotgeweinte Augen.
Als Barbara eines Tages früher als sonst kam, traf sie auch eine Aufwartefrau an. Alle Zimmer waren stets schon in Ordnung, wenn sie erschien, und der ganze Haushalt schien sich glatt abzuwickeln, ohne daß weitere Angestellte notwendig waren.
Barbara hatte ihre Stellung nun schon sechs Monate inne, und das erste Grün zeigte sich an den Sträuchern und Bäumen im Garten, als Mr. Jennings eines Morgens in ihr Arbeitszimmer trat und ihr wie immer guten Morgen wünschte. Er gab ihr dann die Briefe, die mit der Post gekommen waren. Der Rechtsanwalt hatte mit Bleistift kurz darauf vermerkt, wie sie beantwortet werden sollten.
Damit war eigentlich die Aufgabe des Butlers erledigt, aber er blieb noch in der Tür stehen und sah Barbara sonderbar an. Sie spannte gerade einen Bogen in ihre Schreibmaschine.
»Wenn Sie können, schreiben Sie bitte die Briefe möglichst bald -heute morgen ist er wieder in sehr schlechter Stimmung.« Er seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Er regt sich sehr leicht auf - bei einem kranken alten Mann ist das ja nicht weiter verwunderlich. Ich staune nur, wie er schimpfen kann. Aber sonst ist er trotz seiner langen Krankheit wirklich noch ziemlich rüstig. - Haben Sie übrigens schon an Miss Alma Devinne wegen des Fotos geschrieben?«
Barbara Long lächelte. »Ja, gewiß, Mr. Jennings.«
Er nickte, und seine Augen leuchteten in Begeisterung auf. »Das ist dann Bild Nummer 192«, erklärte er stolz. »Ich glaube nicht, daß es eine bessere Sammlung von Schauspielerporträts in London gibt als die meine. Wenn ich in meiner Jugend meinen Willen hätte durchsetzen können, wäre ich selbst zur Bühne gegangen. Meine Frau übrigens auch, die schwärmt ebenso für das Theater wie ich.«
Barbara blieb ernst, obwohl es ihr schwerfiel. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, wie Mrs. Jennings auf der Bühne gewirkt hätte.
»Gestern abend waren wir wieder im Theater und haben uns Irrwege der Liebe angesehen. Ich sage Ihnen, Miss Long: ein wunderbares Stück! Der Höhepunkt ist, wenn die Heldin ihrem Onkel ins Gesicht sagt: Du bist ein Mörder! Und dann die Szene, in der Richard mit Ernest aneinandergerät und ihn nach hartem Kampf die Treppe hinabwirft - einfach herrlich!«
Barbara konnte sich kaum denken, daß ein solcher Reißer irgendwelchen künstlerischen Wert besitzen sollte.
»Sie lieben es wohl, wenn es richtig schaurig ist, Mr. Jennings?«
»Selbstverständlich.« Er seufzte befriedigt. »Da hat man doch etwas zum Nachdenken - man bekommt Gedanken und Ideen... «
Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht, er zögerte einen Augenblick, dann schloß er die Tür und trat auf Barbara zu. Gleichzeitig nahm er den Schlüssel zu dem großen Safe aus der Tasche, der in der Bibliothek stand.
»Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten, Miss Long. Könnten Sie diesen Schlüssel an sich nehmen? Aber befestigen Sie ihn bitte an Ihrem Schlüsselring und behalten Sie ihn immer bei sich, damit Sie ihn zu jeder Zeit finden können, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht ist.«
Sie starrte ihn verblüfft an.
»Ich soll wirklich den Geldschrankschlüssel an mich nehmen«? fragte sie, als ob sie nicht richtig gehört hätte.
»In dem Safe liegt ein großer Briefumschlag... er ist versiegelt.« Jennings war so aufgeregt und nervös, daß er kaum zusammenhängend sprechen konnte. »Wenn mir etwas zustoßen sollte... dann nehmen Sie den Brief bitte heraus.«
Barbara hatte das Gefühl, daß etwas hinter dieser Sache steckte. Jennings hatte zwar theatralische Anwandlungen, aber damit allein ließ sich dieses ungewöhnliche Verhalten nicht erklären. Sie nahm den Schlüssel daher an sich und schob ihn auf den Ring, an dem auch der Hausschlüssel hing.
»Ich habe noch einen zweiten Schlüssel zum Safe«, versicherte er und zeigte ihr diesen.
Dann nickte er ihr noch einmal geheimnisvoll zu und ging befriedigt und erleichtert aus dem Zimmer.
Am selben Nachmittag lernte Barbara im Autobus einen jungen Mann kennen. Zuerst nahm sie keine Notiz von ihm, obwohl er sich neben ihr niederließ. Ihre Aufmerksamkeit war ganz durch den regen Verkehr auf der Straße in Anspruch genommen, und außerdem dachte sie an den Abend. Barbara hatte nämlich vor, ins Theater zu gehen, und zwar mit einer Freundin, die in derselben Pension wohnte wie sie. Die beiden hatten von ihrer Wirtin Karten zu einem nicht gerade
Weitere Kostenlose Bücher