079 - Die Abenteuerin
erfuhr er zufällig, daß ein unbekannter Mann tot auf der Straße aufgefunden worden war.
Ich glaube, er hatte zuerst die Absicht, meinen Großvater zu identifizieren, aber dadurch hätten er, seine Frau und seine Tochter eine gute Stellung und eine schöne Wohnung verloren. Außerdem wäre wahrscheinlich auch herausgekommen, daß Jennings seit einiger Zeit die Unterschrift meines Großvaters auf Schecks gefälscht hatte. So wurde Walter Brownwill, der ein Vermögen von fünfhunderttausend Pfund besaß, in einem Armengrab beigesetzt, ohne daß jemand seinen Namen kannte. Alle Einzelheiten über seinen Tod und sein Begräbnis waren in dem großen Briefumschlag. Jennings fürchtete, daß eines Tages doch die Abrechnung kommen würde und man ihn dann als Mörder vor Gericht stellen könnte.
Nachdem mein Großvater beerdigt worden war, schien zunächst alles gut zu gehen. Jennings brauchte ja nur so zu tun, als ob Brownwill noch im Hause lebte. Deshalb engagierte er auch Sie als Privatsekretärin, um seine Stellung zu sichern. Einmal in der Woche schickte er Sie zur Bank, um Geld zu holen, wodurch Sie den Bankbeamten bekannt wurden. Und das hatte wieder zur Folge, daß der Butler immer größere Summen abheben konnte, ohne daß es besonders auffiel.
Zum Unglück für ihn tauchte aber ich in Europa auf und bestand darauf, meinen Großvater zu sehen. Jennings versuchte mich abzuweisen - er war übrigens auch der Mann, den ich durchs Fenster des Autobusses auf der Straße sah. An jenem Abend speiste ich mit einigen Bekannten, und ich begegnete ihm vor dem Restaurant, in dem ich gegessen hatte. Dabei sprach er mich an. Er wollte mich treffen, wie er sagte, und hätte schon den ganzen Abend nach mir Ausschau gehalten. Dann brachte er mich hierher. Das hätte leicht mein letzter Besuch werden können. Jennings ist ein vollendeter Schauspieler. Er verstand es glänzend, sich zu verstellen, so daß ich ihm zuerst glaubte.«
Barbara dachte an die Theaterleidenschaft dieses Mannes und an seine Sammlung von Fotos berühmter Schauspieler und Künstlerinnen, aber sie sagte nichts.
»Und Ihnen verdanke ich nun mein Leben«, fuhr Mr. Brownwill ruhig fort. »Ich habe daher ein kleines Geschenk für Sie besorgt, das ich Ihnen geben möchte, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Sie schüttelte den Kopf. Es zeigte sich, daß er wenig Erfahrung in solchen Dingen hatte, denn er steckte den Ring, den er aus einem Etui nahm, an ihre rechte Hand.
DER HERR IM DUNKELBLAUEN ANZUG
Viele Herren versuchten es, eine Bekanntschaft mit Lucia Bradfield anzuknüpfen. Sie kamen zufällig an ihrer Wohnung in der St. James Street vorbei, sie lächelten sie an, wenn sie im Hyde Park spazierenging, und sie sahen sich um, ob sie gleichfalls über die Schulter zurückblickte. Sie boten ihr an, den Platz mit ihr zu wechseln, wenn sie ihr in der Eisenbahn gegenübersaßen, oder die Fenster auf- und zuzumachen, und sie begannen mit ihr über das Wetter zu sprechen.
Aber der Herr im dunkelblauen Anzug, den sie an einem Frühlingsnachmittag im Hyde Park traf, sagte ihr nur, daß ihr linker Strumpf schief säße. Er sprach in sachlichem, nüchternem Ton, als ob es zu seinen Gewohnheiten gehörte, Damen auf derartige Dinge aufmerksam zu machen.
Dann wandte er ihr den Rücken, bis sie den Strumpf in Ordnung gebracht hatte.
»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte sie, als sie an ihm vorüberging.
»Oh, gern geschehen.«
Mehr Worte wurden nicht zwischen ihnen gewechselt. Er schien sich nicht besonders für sie zu interessieren, und sie wunderte sich nur, daß er trotz des kühlen Wetters keinen Mantel trug.
Am nächsten Tag sah sie ihn wieder, und diesmal hatte er einen Mantel an. Sie erkannte ihn gleich wieder, als er sie im Vorübergehen durch ein Kopfnicken grüßte. Es war wie ein stillschweigendes Einverständnis. Er nickte nur, lächelte aber nicht. Er sah recht gut aus, vermutlich war er Offizier gewesen. Ein Terrier begleitete ihn.
Eine Woche später saß sie wieder im Park. Bald darauf kam er auch des Weges und nahm neben ihr Platz. Dann wehrte er seinen Hund ab, der gestreichelt werden wollte.
»Fort, Joe! - Geh, fang Kaninchen...!«
Joe machte sich davon, sah sich aber noch mehrmals um, als ob er seinem Herrn Vorwürfe machen wollte.
»Ein merkwürdiger Hund«, meinte er. »Er ist nicht an Damen gewöhnt. Meistens verkehre ich nur in Herrengesellschaft.«
»So«, erwiderte sie kühl und gleichgültig, sie war darauf gefaßt, daß er weitere Versuche
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