079 - Im Würgegriff des Nachtmahres
aussieht. Ich lutsch' die Brötchen nicht aus der
Schnabeltasse, Jean nicht . . ."
●
Sie standen vor dem Gittertor. Larrys Blick ging sofort in die
Runde. Er suchte nach ein Möglichkeit, um schnell und sicher hinübersteigen zu
können.
„Es ist nicht nötig", vernahm er die Stimme der Inderin neben
sich. „Es steht offen."
X-RAY-3 kam aus dem Staunen nicht mehr 'raus. Der heutige Tag
hatte es in sich.
„Es steht immer offen. Immer dann jedenfalls, wenn Monsieur de
Ayudelle das nächste Opfer erwartet. Was heute — der Fall — gewesen ist."
Sheherezades Stimme war mit einem Mal sehr leise, und ihre Worte tropften zäh
wie erkaltendes Blei von ihren Lippen. Die Inderin stand atemlos da, als
lausche sie auf eine ferne und nur für sie hörbare Stimme. Sheherezades
sensible Sinne, die übernatürliche Kräfte und Spuren ertasteten, waren aufs
äußerste angespannt. Erst in diesen Sekunden nahm sie das wahr, was sich vor
einigen Stunden hier abgespielt hatte.,
Larry stieß das große Tor nach innen.
An der Seite der Inderin schritt er über den harten,
festgetretenen Weg.
„Hier sind sie gegangen. Ich sehe ihre Körper vor mir ... Es waren
zwei Frauen. Die eine — Virginie de Ayudelle — die andere . . ." Sie
stockte, atmete schnell. „Virginie de Ayudelle ist gekommen, um zu
sterben", sprudelten es plötzlich aus ihr hervor. Die Vision erstand vor
ihr. Deutlich sah sie Virginie de Ayudelle — wie einen Geist, der in der
Dunkelheit vor ihr aufleuchtete, mit ihr sprach, ihr den Weg wies. „Die andere
Frau — ist Morna Ulbrandson! Sie ist der Fabrikantenfrau gefolgt, um Gewißheit
über deren Schicksal zu bekommen. Doch kein weibliches Wesen, das jemals diesen
Weg ging, ist lebend wieder zurückgekehrt."
Ohne ein weiteres Wort der Erklärung abzugeben, beschleunigte
Sheherezade ihren Schritt.
Wortlos eilte der kleine Sekretär hinter ihnen her. Wie ein
Schatten blieb er stets auf Tuchfühlung mit seiner Herrin.
Sie gingen den gleichen Weg, den auch Virginie de Ayudelle und
Morna Ulbrandson gegangen waren. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand die
Seherin sich in dem stockfinsteren, unheimlich stillen Park zurecht. Sie
stießen auf das Hauptgebäude. Schwarz und scheinbar verlassen lag es vor ihnen.
Sheherezade ging sofort auf die Tür an der Seite zu, drückte die
Klinke und betrat den langen, kahlen Korridor.
Widerspruchslos folgte Larry nach. Das Ganze schien ihm die
Fortsetzung eines Traums zu sein Er kam schnell und ohne Aufenthalt ans Ziel.
Auf Anhieb schien die Inderin zu wissen, wohin es ging.
„Was ist mit Morna?" fragte X-RAY-3 leise. „Wissen Sie
Näheres über sie?"
Sheherezade stand so dicht vor ihm, daß er ihren Atem spürte.
„Gefahr", murmelte sie. „Ich fühle Gefahr. Für Morna, für Sie. Es sind
Menschen in unserer Nähe."
Sie schwieg eine Sekunde und sagte dann schnell: „Wir müssen
weitergehen und sehr aufpassen. Germaine ist in der Nähe. Um Mitternacht will
sie töten. Morna Ulbrandson soll sterben."
●
Sie erreichten den Durchlaß.
Larry kam das Unternehmen gewagt vor. Er begann Zusammenhänge zu
ahnen. Aus dem, was er über Mornas Vorarbeit wußte, was auch Tolbiac
beschäftigte, und aus dem, was die Inderin an Hinweisen gegeben hatte, konnte
er sich nun ein Bild machen.
Er schätzte die Gefahr richtig ein. Und er begriff auch, daß sein
Spielraum äußerst gering war — ja, er war kaum vorhanden. Der Ausgang des
Abenteuers war mehr als ungewiß.
Ein gewalttätiges Phantom bestimmte die Spielregeln. X-RAY-3
fehlten Informationen, um mit Bestimmtheit sagen zu können, wie er die Dinge in
den Griff bekommen konnte. Gute Aussichten entdeckte er nicht.
Larry führte den Strahl seiner Taschenlampe über die hohen
Treppenstufen.
Diesen Weg sind sie gegangen. Es ist zu einem Kampf
gekommen." Sheherezade redete leise, mit halbgeschlossenen Augen. Sie
schien wie in Trance. „Patloff ... Maurice Patloff war hier. . ."
Je tiefer sie in das Chateau eindrangen, desto mehr erfuhr Larry
über das, was geschehen war.
Sie passierten den düsteren Keller. X-RAY-3 hielt in der Linken
die Taschenlampe, in der Redeten die Smith & Wesson Laser, die von Saro in
der Wohnung Lucelions sichergestellt worden war.
Nach dem Kellerausgang folgten die steil nach oben führenden
Treppenstufen, dann der Korridor. Dunkel lag er vor ihnen. Jetzt befanden sie
sich im bewohnbaren und offensichtlich auch bewohnten Teil des Schlosses. Wie
dunkles Blut leuchteten die
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