0790 - Kristall aus der Vergangenheit
einträchtig dem guten roten Wein des Wirts kräftig zugesprochen.
Ich weiß, dass weder bei Celine noch bei ihrem Vater die Schuld zu suchen ist. Doch irgendetwas geht hier vor, das ich nicht verstehe. Ich finde keine Ruhe. Morgen will ich mit meinem Onkel reden. Er muss mir genauer erzählen, was geschah. Ich glaube, der Teufel sucht uns heim und ich will wissen, wieso Celine sein erstes Opfer wurde.
9. Mai 1753
Es hat einen Angriff auf meinen Onkel gegeben, als er den Laden des Backmeisters betrat, um etwas Brot zu kaufen. Der Besitzer sprang heran, beschimpfte ihn unflätig und schlug mit einem Besen auf ihn ein. Obwohl ich nicht gutheißen kann, was er getan hat, verstehe ich seine Beweggründe: Sein Weib ist schwachsinnig geworden. Er hat sich der allgemeinen Meinung im Dorf angepasst und gibt meinem Onkel die Schuld.
Der Vorfall ging zum Glück ohne größere Verletzungen ab, aber die Lage im gesamten Dorf hat sich dadurch loeiter verschlechtert. Ich kann die Spannung fühlen; es ist wie vor einem Gewitter, wenn man weiß, dass es sich bald entladen wird. Mein Onkel denkt bereits darüber nach, das Dorf zu verlassen. Doch wohin sollte er gehen?
Erst nach Anbruch der Nacht konnte ich mit Onkel reden. Er vermochte nicht, sich zu konzentrieren. Ich habe mehrmals nachfragen müssen, bis er sich erinnerte, dass sie gerade einen großen blauen Kristall im Wald gefunden hatten, als Celine zu schreien begann und nicht mehr ansprechbar war. Ich bat darum, den Kristall sehen zu können, doch er wusste nicht, wo er abgeblieben war. Celine habe ihn in die Tasche ihres Kleides gesteckt, aber dort sei er am nächsten Tag nicht mehr gewesen.
Ich fragte daraufhin Celines Mutter. Die Arme ist vom Kummer gebeugt, ihre Augen sind vom Weinen geschwollen. Seit dem Vorfall hat sie das Haus nicht mehr verlassen, kümmert sich Tag und Nacht um ihre Tochter. Ihre Wangen haben jede Farbe verloren.
Celine geht es auch körperlich nicht gut. Von Tag zu Tag zerfällt sie mehr, liegt still auf ihrem Kissen, ihr Gesicht beinahe so blass wie das Laken im Bett. Ihre Wangenknochen treten scharf aus dem abgemagerten Gesicht hervor. »Sie will nicht mehr essen«, sagte mir ihre Mutter. »Das Kind wird verhungern.« Ihre Haarfarbe ist stumpf geworden.
Jetzt noch sehe ich mit Schrecken ihr debiles Lächeln vor mir. Ich war nahe daran zu weinen, als ich sie sah und mich an das unbekümmerte springlebendige Kind erinnerte, als das ich sie kennen gelernt habe.
Meine Tante erinnert sich, dass Celine an jenem Tag, als noch Hoffnung auf Besserung bestand, mit dem Kristall gespielt habe. Sie hatte ihn ihr wegnehmen wollen, doch Celine wollte ihr den Stein nicht geben. Sie verbarg ihn vor ihren Eltern und hat ihn schließlich aus dem Fenster geworfen.
François überflog die nächsten Eintragungen, die davon handelten, wie sein Großvater die Idee entwickelte, der seltsame Edelstein sei für die gehäuften Fälle von Irrsinn verantwortlich. Die Frau, die den Stein vor dem Haus an sich genommen hatte, war ebenfalls wahnsinnig geworden.
Offenbar hatte nach der Meinung seines Großvaters jeder, der mit dem Kristall in Berührung kam, den Verstand verloren.
»Unsinn«, zischte François vor sich hin, ärgerlich darüber, dass die anfangs interessante Geschichte eine solch eigenartige Wendung genommen hatte. Gerade in seinen letzten Tagen hatte Großvater eigenartige Dinge erzählt. Er glaubte an übernatürliche Vorgänge, an den Teufel und Dämonen. François hatte das als altersbedingte Spinnerei abgetan, doch es schien so, als habe sein Großvater schon in seiner Jugend den Sinn für die Realität verloren.
Und das in der heutigen Zeit, in der das Licht der Vernunft den alten Aberglauben des dunklen Mittelalters restlos verdrängt hatte und der Mensch endlich über sein eigenes Leben bestimmen konnte.
François überblätterte zwei Seiten, bis er von der Erzählung wieder gepackt wurde.
17. Mai 1753
Endlich habe ich den Kristall gefunden, aus einem traurigen Anlass heraus. Die komplette Familie des Lehrers ist gestern schwachsinnig geworden. Er selbst, sein Weib, seine beiden Söhne und auch seine Tochter. Man hat sie aus dem Dorf gebracht. Ich bin nachts in sein Haus eingedrungen und habe in der Zimmerecke der Schlafstube der Kinder ein blaues Glitzern gesehen. Dort lag er, der verfluchte Kristall, den Celine aus dem Wald in unser Dorf gebracht hat.
Ich bin mir sicher, dass dieser Edelstein den Verstand von mehr als vierzig
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