0790 - Kristall aus der Vergangenheit
Heimat aufgegeben und waren in ein Nachbarkloster gezogen, denn der Abt und alle Würdenträger waren in den Flammen ums Leben gekommen.
Seitdem zerfiel der Gebäudekomplex immer weiter. Nur vereinzelte Mauern trotzten der Vergänglichkeit.
François rieb sich die Hände. Niemand hatte in all den Jahren geahnt, welcher Schatz in der Kapelle eingemauert war. Er hatte die Ruine als Kind mehrfach besucht und wusste daher, dass die Kapelle noch nicht eingestürzt war. Das Feuer hatte vor allem im davon einige Meter entfernten Hauptgebäude gewütet. Der faustgroße Diamant musste nach wie vor in der Wand der Kapelle stecken und darauf warten, geborgen zu werden.
Nur wenig Licht fiel durch das kleine Fenster ins Innere der engen Reisekabine. François saß auf der harten Holzbank und wurde auf dem schlechten Weg durchgeschüttelt. Er blätterte zur Ablenkung die letzten Seiten des Tagebuchs durch. Die Eintragungen endeten zehn Jahre nach den Vorfällen von 1753. Die letzten Sätze waren symptomatisch für die Gefühlslage, in der sich der Schreiber über Jahre hinweg immer wieder befunden hatte.
Der Gedanke an den Kristall lässt mich nicht los. Ich weiß, dass ich dazu bestimmt war, ihn zu finden und vom Angesicht dieser Erde zu verbannen. Doch in meinen Gedanken verfolgt er mich. Ich habe ihn gesehen, den Diamanten, der direkt aus der Krone des Satans stammen muss. Wahnsinn hat er gebracht und mittlerweile auch den vielfachen Tod. Viele der Schwachsinnigen sind verkümmert und elendig verhungert, in diese neuen Häuser abgeschoben, die die Vernunft uns brachte. [1] Nachts sehe ich oft den Kristall in meinen Träumen, sehe, wie das Licht sich blau funkelnd in ihm bricht und unheilige Figuren in die Luft zeichnet.
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Die Kutsche kam ruckend zum Stehen. François stieg ungeduldig aus und sprach den Kutscher an. »Wir gehen wie besprochen vor. Sie warten hier, während ich die Ruine besichtige. In zwei oder drei Stunden bin ich wieder da.«
Der Kutscher nickte. Er wunderte sich nicht über das Werkzeug, das sein Kunde in einer Tasche vor ihm zu verbergen suchte. Er war wohl ein verrückter Jäger von Andenken, der sich ein Stück der Klostermauern herausbrechen wollte, um es zu Hause auf seinen Kamin zu stellen. Er hatte derlei reden hören. Die Ideen der reichen Herren gingen ihn nichts an, und es war ihm gleichgültig, was sie taten, solange sie ihn bezahlten. Er hatte das Geld nötig, denn sein Sohn war erkrankt und Medizin war teuer.
François hatte Glück. Er war der einzige Besucher der Ruine. Nicht einmal die Kinder aus dem nur wenige hundert Meter entfernten Ort spielten darin. Sie warteten vermutlich auf die milderen Temperaturen des Abends. Die Sonne stand jetzt um die Mittagszeit hoch am Himmel in ihrem Zenit und strahlte heiß herab.
Zielstrebig näherte er sich den verwitterten Resten der Kapelle. Nur noch die nackten alten Steinmauern standen einsam auf der Wiese, etwa zwanzig Meter vom ehemaligen Hauptgebäude entfernt, und warfen scharf gezeichnete kurze Schatten.
François trat durch die hohle Türöffnung und ging zu den Resten des Altars, der erstaunlich gut erhalten war. Unkraut wucherte unweit davon aus dem aufgerissenen Boden. Erdreich lugte hervor.
Die Eintragung vom 22. Mai hatte die genaue Stelle bezeichnet, an der der Kristall eingemauert worden war. Er sah sich um und fand nach wenigen Sekunden eine Unebenheit im Gemäuer. François beglückwünschte sich.
Hier muss es sein. Großvater hat tatsächlich die Wahrheit geschrieben…
Mit Stemmeisen und Hammer machte er sich an die Arbeit. Die Sonne brannte ihm auf den Kopf, denn die Kapelle besaß kein Dach mehr. Schwitzend brach er nach mehreren Minuten endlich einen Stein aus der Mauer. Ein Glücksgefühl durchfuhr ihn, als er den Hohlraum dahinter vorfand, den sein Großvater im Tagebuch beschrieben hatte. Der alte Mann hatte Recht behalten!
Ich danke dir, alter Narr, dass du den Diamanten für mich bewahrt hast!
François griff ohne Zögern in die freigelegte Öffnung.
Er fühlte einen Berg alter Lumpen. Hastig zog er sie heraus. Er hielt kugelförmig gewickeltes grobes Leinen in der Hand, etwa so groß wie der Kopf eines Kindes.
Darin musste sich der Edelstein befinden. Was waren sein Großvater und der damalige Abt des Klosters in ihrem Aberglauben gefangen gewesen! Von Dämonenfurcht geknechtet, hatten sie den wahren Wert des Kristalls nicht erkannt. Doch ihre Dummheit war es, die ihm in Zukunft ein sorgenfreies Leben
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