Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
08-Die Abschussliste

08-Die Abschussliste

Titel: 08-Die Abschussliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
Vom Netzwerk:
eurem Vater begegnet, habe euch Jungs bekommen, habe die Welt bereist. Es gibt nicht viele Staaten, in denen ich nicht war.«
    Wir schwiegen.
    »Ich bin Französin«, sagte sie. »Ihr seid Amerikaner. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Wird eine Amerikanerin krank, ist sie empört. Wie konnte ihr das nur zustoßen? Sie muss dieses Versehen sofort korrigieren lassen. Augenblicklich! Aber
wir Franzosen verstehen, dass man erst lebt und dann stirbt. Das ist keineswegs empörend. Das war schon immer so. Es muss so sein, versteht ihr? Würden die Menschen nicht sterben, wäre die Welt längst schrecklich überfüllt.«
    »Es geht darum, wann man stirbt«, warf Joe ein.
    Unsere Mutter nickte.
    »Ja, das stimmt«, meinte sie. »Man stirbt, wenn man seine Zeit gekommen fühlt.«
    »Das ist zu passiv.«
    »Nein, das ist realistisch, Joe. Hier geht’s darum, welche Schlachten man schlagen will. Natürlich heilt man die kleinen Dinge. Hat man einen Unfall, lässt man sich wieder zusammenflicken. Aber manche Schlachten sind nicht zu gewinnen. Glaubt nicht, dass ich mir diese ganze Sache nicht sehr sorgfältig überlegt habe. Ich habe Bücher gelesen. Ich habe mit Freunden gesprochen. Die Heilungschancen von Kranken mit solch deutlichen Symptomen sind sehr gering. Wer will zu den zehn oder zwanzig Prozent gehören, die durch ärztliche Kunst noch fünf Jahre länger am Leben bleiben? Und selbst das nur nach wirklich schrecklichen Behandlungen.«
    Es geht darum, wann man stirbt. Wir verbrachten den Vormittag damit, immer wieder auf Joes zentrale Frage zurückzukommen. Wir diskutierten darüber; wir beleuchteten sie von allen Seiten. Aber die Schlussfolgerung blieb immer gleich: Manche Schlachten sind nicht zu gewinnen. Und dies war ohnehin eine akademische Frage. Unsere Diskussion hätte vor einem Jahr stattfinden sollen. Sie war nicht länger relevant.
    Joe und ich aßen zu Mittag. Unsere Mutter aß nichts. Ich wartete darauf, dass Joe die nächste auf der Hand liegende Frage stellen würde. Sie drängte sich förmlich auf. Schließlich fasste er sich ein Herz. Joe Reacher, zweiunddreißig, einen Meter achtundneunzig groß, hundert Kilo schwer, West-Point-Absolvent, irgendein hohes Tier im Finanzministerium, legte die Hände flach auf den Tisch und sah unserer Mutter in die Augen.
    »Werden wir dir nicht fehlen, Mom?«, fragte er.

    »Falsche Frage«, antwortete sie. »Ich bin dann tot. Mir wird nichts mehr fehlen. Aber ich werde euch fehlen. Wie euer Vater euch fehlt. Wie er mir fehlt. Wie mir mein Vater und meine Mutter und meine Großeltern fehlen. Dass einem die Toten fehlen, ist ein Teil des Lebens.«
    Wir sagten nichts.
    »In Wirklichkeit fragst du mich etwas ganz anderes«, erklärte sie. »Du fragst, wie ich euch verlassen kann. Du fragst, ob eure Angelegenheiten mich nicht mehr interessieren. Will ich denn nicht mehr sehen, wie euer Leben weitergeht? Habe ich das Interesse an euch verloren?«
    Wir schwiegen.
    »Das verstehe ich«, sagte sie. »Das tue ich wirklich. Die gleichen Fragen habe ich mir selbst gestellt. Man kommt sich vor, als verließe man einen Film vorzeitig. Als würde man dazu gezwungen, einen Film zu verlassen, der einen wirklich fesselt. Das hat mir lange Sorgen gemacht. Ich würde nie erfahren, wie er ausging. Ich würde nie wissen, wie euer Leben sich noch entwickelte. Diese Vorstellung war mir verhasst. Aber dann ist mir klar geworden, dass ich den Film ohnehin früher oder später verlassen würde. Ich meine, niemand ist unsterblich. Ich werde niemals wissen, was aus euch beiden wird. Nicht bis zuletzt. Nicht einmal unter günstigsten Umständen. Als ich das begriffen hatte, habe ich mir nicht mehr so viel daraus gemacht. Der Abschied ist immer willkürlich. Ich werde mir immer wünschen, noch mehr miterleben zu können.«
    Wir saßen eine Zeit lang schweigend da.
    »Wie lange?«, fragte Joe.
    »Nicht lange«, erwiderte sie.
    Wir sagten nichts.
    »Ihr braucht mich nicht mehr«, meinte sie. »Ihr seid beide längst erwachsen. Meine Arbeit ist getan. Das ist natürlich, und das ist gut. So ist das Leben. Also lasst mich gehen.«

    Um sechs Uhr abends waren wir von dem vielen Reden ganz erschöpft. Seit einer Stunde hatte niemand mehr ein Wort gesagt. Dann setzte unsere Mutter sich auf.
    »Kommt, wir gehen zum Abendessen aus«, sagte sie. »Ins Polidor in der Rue Monsieur le Prince.«
    Wir riefen ein Taxi und ließen uns zur Place de l’Odéon fahren. Von dort aus gingen wir auf Wunsch unserer

Weitere Kostenlose Bücher