08-Die Abschussliste
stattgefunden hatte, seit wir dafür alt genug waren. Sie stand mühsam auf, trat hinter Joe, legte ihm beide Hände auf die Schultern, beugte sich nach vorn und küsste ihn auf die Wange.
»Was brauchst du nicht zu tun?«, fragte sie ihn.
Er gab keine Antwort. Unser Schweigen war Bestandteil dieses Rituals.
»Du brauchst nicht alle Probleme der Welt zu lösen, Joe. Nur manche. Es gibt genug für alle.«
Sie küsste ihn nochmals auf die Wange und trat dann hinter mich. Ich konnte ihre keuchenden Atemzüge hören. Sie küsste mich auf die Wange und legte ihre Hände wie in all den Jahren zuvor auf meine Schultern. Bewunderte ihre Breite. Als zierliche Frau war sie fasziniert davon, wie riesengroß ihr Baby geworden war.
»Du bist so stark wie sonst zwei Jungen«, sagte sie.
Dann folgte meine ganz persönliche Frage: »Was wirst du mit all dieser Kraft anfangen?«
Ich gab - wie schon früher - keine Antwort darauf.
»Du wirst das Rechte tun«, sagte sie.
Dann beugte sie sich vor und küsste mich erneut auf die Wange.
Ich dachte: Zum letzten Mal?
Eine halbe Stunde später verließen wir das Haus. An der Wohnungstür umarmten wir sie lange und fest, sagten ihr, dass wir sie liebten. Und sie sagte uns, sie liebe uns, habe uns immer geliebt. Dann fuhren wir mit dem kleinen Aufzug hinunter und machten uns auf den langen Weg zum Place de l’Opéra mit der Abfahrtsstelle des Flughafenbusses. Wir hatten Tränen in den Augen und sprachen kein Wort. Der Ground Hostess in Roissy-Charles de Gaulle sagten meine Orden überhaupt nichts. Sie gab uns Sitze im hinteren Drittel der Maschine. Etwa auf halber Strecke griff ich nach einem Exemplar von Le Monde und las, dass Noriega in Panama City geschnappt worden war. Vor einer Woche noch hatte dieser Auftrag mich Tag und Nacht beschäftigt. Jetzt konnte ich mich kaum noch daran erinnern. Ich ließ die Zeitung sinken und versuchte, nach vorn zu schauen. Versuchte, mich zu erinnern, wohin ich unterwegs war und was ich tun sollte, wenn ich dort ankam. Ich hatte keine richtige Erinnerung daran. Auch kein Gefühl dafür, wie’s weitergehen würde. Hätte ich es gewusst, wäre ich in Paris geblieben.
7
Auf unserem Flug nach Westen verlängerten die Zeitzonen den Tag, statt ihn zu verkürzen. Um vierzehn Uhr landeten wir auf dem Dulles Airport. Ich verabschiedete mich von Joe. Er ging
zum Taxistand, um in die Stadt zu fahren. Ich machte mich auf die Suche nach den Bussen und wurde verhaftet, bevor ich sie gefunden hatte.
Wer bewacht die Wächter? Wer verhaftet einen Militärpolizisten? In meinem Fall war es ein Trio von Warrant Officers direkt aus der Dienststelle des Kommandeurs der Militärpolizei: ein W 4 und zwei W 3 . Der W 4 hielt mir seinen Dienstausweis und den Haftbefehl hin, und dann zeigten die W 3 mir ihre Berettas und Handschellen. Der W 4 stellte mich vor die Wahl, mich anständig zu benehmen oder gewaltsam abgeführt zu werden. Ich lächelte flüchtig. Sein Auftreten gefiel mir. Er machte seine Sache gut. Ich bezweifelte, dass ich etwas anders oder besser gemacht hätte.
»Sind Sie bewaffnet, Major?«, sagte er.
»Nein.«
Hätte er mir das geglaubt, hätte ich mir Sorgen um die Army gemacht. Manche W 4 hätten’s wahrscheinlich getan. Sie hätten sich von den besonderen Umständen dieses Falls einschüchtern lassen. Einen höheren Offizier aus dem eigenen Korps verhaften zu müssen, ist ein schwieriger Auftrag. Aber dieser spezielle W 4 machte alles richtig. Als er mich Nein sagen hörte, nickte er seinen W3 zu, die mich daraufhin so blitzschnell abtasteten, als hätte ich Ja, mit einem Atomsprengkopf gesagt. Einer von ihnen nahm die Leibesvisitation vor, während der andere meinen Seesack durchsuchte. Beide arbeiteten sehr gründlich. Brauchten einige Minuten, bis sie ganz zufrieden gestellt waren.
»Muss ich Ihnen Handschellen anlegen?«, fragte der W 4 .
Ich schüttelte den Kopf. »Wo steht der Wagen?«
Er gab keine Antwort. Die beiden W3 nahmen ihre Position rechts und links und etwas hinter mir ein. Der W 4 ging voraus. Wir überquerten den Gehsteig, passierten die Bushaltestellen und gingen zu der für Dienstfahrzeuge reservierten Fahrspur. Dort stand eine olivgrüne Limousine. Für meine Bewacher war dies der gefährlichste Zeitpunkt. Ein zum Äußersten entschlossener Mann würde jetzt alle Kräfte aufbieten, um die Flucht zu
wagen. Das wussten sie, deshalb nahmen sie mich etwas enger zwischen sich. Sie waren ein gutes Team. Drei gegen einen,
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