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08-Die Abschussliste

08-Die Abschussliste

Titel: 08-Die Abschussliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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interessierten. Wir aßen Pastete, Weißbrot mit Käse, kochten uns Kaffee und setzten uns an den Küchentisch, um ihn zu trinken. Vier Stockwerke unter uns lag die Avenue Rapp still und verlassen da.
    »Was denkst du?«, fragte Joe mich.
    »Sie stirbt, glaube ich. Deshalb sind wir schließlich gekommen.«
    »Können wir sie dazu bewegen, sich behandeln zu lassen?«
    »Dazu ist es zu spät. Das wäre Zeitverschwendung. Und wir können sie zu nichts zwingen. Wann hätte jemand sie zu etwas zwingen können, das sie nicht wollte?«
    »Warum will sie das nicht?«
    »Keine Ahnung.«
    Er sah mich an.
    »Sie ist eine Fatalistin«, sagte ich.
    »Sie ist erst sechzig.«
    Ich nickte. Sie war bei meiner Geburt dreißig gewesen - und achtundvierzig, als ich von zu Hause wegging. Ihr Alter hatte man ihr nie angemerkt. Zuletzt hatte ich sie vor anderthalb Jahren gesehen, als ich auf dem Weg von Deutschland in den Nahen Osten zwei Tage Station in Paris machte. Sie war bei bester Gesundheit gewesen und hatte wunderbar ausgesehen. Damals befand sie sich seit etwa zwei Jahren im Witwenstand, und wie bei vielen Menschen hatte diese Zweijahresschwelle sich als eine Art Wendemarke erwiesen. Sie wirkte wie eine Frau, der noch viele Jahre geschenkt wären.
    »Warum hat sie uns nichts erzählt?«, fragte Joe.
    »Keine Ahnung.«

    »Ich wollte, sie hätte’s getan.«
    »Scheiße passiert eben«, meinte ich.
    Joe nickte nur.
     
    Sie hatte die Betten im Gästezimmer frisch bezogen, uns Handtücher hingelegt und Blumen in weißen Porzellanvasen auf die Nachttische gestellt. Die beiden Betten füllten den zart nach Blumen duftenden Raum fast aus. Ich stellte mir vor, wie sie sich mit ihrer Gehhilfe abgemüht, mühsam die Federbetten aufgeschüttelt, die Bettlaken unter die Matratzen gesteckt und glatt gestrichen hatte.
    Joe und ich versanken in Schweigen. Ich hängte meine Uniform in den Kleiderschrank und ging ins Bad. Stellte meine innere Uhr auf sieben Uhr morgens, schlüpfte ins Bett, lag da und starrte eine Stunde lang die Zimmerdecke an. Dann schlief ich ein.
     
    Pünktlich um sieben wachte ich auf. Joe war schon auf den Beinen. Vielleicht hatte er kein Auge zugetan. Vielleicht war er ein regelmäßigeres Leben gewöhnt als ich. Oder der Jetlag setzte ihm mehr zu als mir. Ich duschte, holte eine Arbeitshose und ein T-Shirt aus dem Seesack und zog mich an. Fand Joe in der Küche. Er war dabei, Kaffee zu kochen.
    »Mom schläft noch«, erklärte er. »Wahrscheinlich hat sie ein Schlafmittel genommen.«
    »Ich hole uns was zum Frühstück«, sagte ich.
    Ich zog meinen Mantel an und ging zu einer Patisserie ganz in der Nähe. Ich kaufte Croissants und Pain au chocolat . Unsere Mutter befand sich noch in ihrem Schlafzimmer, als ich zurückkam.
    »Sie begeht Selbstmord«, meinte Joe. »Das dürfen wir nicht zulassen.«
    Ich schwieg.
    »Was?«, sagte er. »Würdest du sie nicht zurückhalten, wenn sie sich eine Pistole an die Schläfe hielte?«

    Ich zuckte mit den Schultern. »Das hat sie bereits getan und schon vor einem Jahr abgedrückt. Wir sind zu spät dran. Dafür hat sie ganz bewusst gesorgt.«
    »Aber warum?«
    »Wir müssen abwarten, bis sie’s uns erzählt.«
     
    Das tat sie während eines Gesprächs, das fast den ganzen Tag lang dauerte. Es kam nur bruchstückweise voran. Wir begannen damit beim Frühstück. Sie kam aus ihrem Zimmer: frisch geduscht, hübsch angezogen und so gut aussehend, wie eine Krebskranke im letzten Stadium mit einem gebrochenen Bein und einer Gehhilfe aus Aluminium überhaupt aussehen kann. Sie brühte frischen Kaffee auf und deckte den Frühstückstisch mit ihrem besten Porzellan. Wir fühlten uns in frühere Zeiten zurückversetzt. Joe und ich wurden wieder zu mageren kleinen Jungen, und sie blühte zu der Matriarchin auf, die sie einst gewesen war. Als Soldatenfrau und Mutter hat man kein leichtes Leben, und manche Frauen kommen nie damit zurecht. Sie hatte es stets gemeistert und verstanden, ihrer Familie überall ein behagliches Heim zu schaffen.
    »Ich bin nur dreihundert Meter von hier entfernt zur Welt gekommen«, sagte sie. »In der Avenue Bosquet. Von meinem Fenster aus konnte ich den Invalidendom und die École Militaire sehen. Ich war zehn, als die Deutschen Paris besetzten. Ich dachte, das sei das Ende der Welt. Ich war vierzehn, als sie wieder abzogen. Ich dachte, das sei der Beginn einer neuen Ära.«
    Joe und ich schwiegen.
    »Seither war jeder Tag ein Geschenk«, fuhr sie fort. »Ich bin

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