08-Die Abschussliste
Eindruck, sie wiege weniger als ihre Gehhilfe aus Aluminium.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Kommt rein«, sagte sie. »Fühlt euch wie zu Hause.«
Sie wendete die Gehhilfe mit kurzen, unbeholfenen Bewegungen und schlurfte durch den Flur zurück. Dabei schnappte sie keuchend nach Luft. Ich ging hinter ihr her. Joe schloss die Wohnungstür und folgte mir. An den hohen, schmalen Flur schloss sich das Wohnzimmer mit Parkettboden, weißen Wänden, weißen Sofas und gerahmten Spiegeln an. Unsere Mutter hielt auf eines der Sofas zu, trat langsam rückwärts an die Kante und ließ sich hineinfallen. Sie schien in den Polstern zu versinken.
»Was ist passiert?«, fragte ich noch einmal.
Sie wollte nicht antworten. Wehrte die Frage einfach mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Joe und ich setzten uns nebeneinander aufs Sofa gegenüber.
»Du musst es uns sagen«, insistierte ich.
»Wir sind eigens rübergekommen«, erklärte Joe.
»Ich dachte, ihr wolltet mich nur besuchen«, sagte sie.
»Nein, das hast du nicht gedacht«, erwiderte ich.
Sie starrte die Wand über unseren Köpfen an.
»Mir fehlt nichts«, meinte sie.
»So sieht’s aber nicht aus.«
»Nun, das war nur schlechtes Timing.«
»In welcher Beziehung?«
»Ich habe Pech gehabt«, sagte sie.
»Wie?«
»Mich hat ein Auto angefahren und mir das Bein gebrochen.«
»Wo? Wann?«
»Vor zwei Wochen«, antwortete sie. »Drunten auf der Avenue, gleich vor dem Haus. Es hat geregnet. Ich konnte unter meinem Schirm nicht viel sehen und bin auf die Straße getreten. Der Fahrer hat mich gesehen und noch gebremst, aber das Pflaster war nass, und der Wagen ist einfach in mich reingerutscht, ganz langsam, wie in Zeitlupe, aber ich war wie gelähmt und konnte mich nicht bewegen. Ich habe gespürt, wie er ganz leicht mein Knie berührt hat, aber davon ist der Knochen gebrochen. Das hat verdammt wehgetan.«
Vor meinem inneren Auge erschien der Kerl, der sich auf dem Parkplatz außerhalb des Striplokals bei Fort Bird in einer öligen Pfütze wand.
»Warum hast du uns das nicht erzählt?«, fragte Joe.
Sie gab keine Antwort.
»Aber das wird wieder, stimmt’s?«
»Natürlich«, sagte sie. »Das ist eine Kleinigkeit.«
Joe sah mich nur an.
»Was hast du noch?«, fragte ich.
Sie starrte weiter die Wand an. Machte wieder eine wegwerfende Handbewegung.
»Was noch?«, fragte Joe.
Sie sah erst mich, dann ihn an.
»Sie haben mich geröntgt«, erklärte sie. »Ihrer Ansicht nach bin ich eine alte Frau. Und sie sagen, dass alte Frauen, die sich Knochen brechen, leicht Lungenentzündung bekommen. Weil wir liegen müssen und uns nicht genug bewegen, kann unsere Lunge sich mit Wasser füllen und sich entzünden.«
»Und?«
Sie schwieg.
»Hast du eine Lungenentzündung?«, wollte ich wissen.
»Nein.«
»Was ist also passiert?«
»Sie haben’s festgestellt. Beim Röntgen.«
»Was festgestellt?«
»Dass ich Krebs habe.«
Lange Zeit sprach niemand.
»Aber das wusstest du bereits«, sagte ich.
Sie lächelte mich an, wie sie’s immer tat.
»Ja, Darling«, sagte sie. »Ich hab’s schon gewusst.«
»Seit wann?«
»Seit ungefähr einem Jahr.«
Niemand sprach.
»Welche Art Krebs?«, fragte Joe.
»Ach, so ziemlich jede Art.«
»Ist er behandelbar?«
Sie schüttelte den Kopf.
»War er behandelbar?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Ich habe nicht danach gefragt.«
»Wie haben die Symptome ausgesehen?«
»Ich hatte Magenschmerzen. Und keinen Appetit.«
»Dann hat er sich ausgebreitet?«
»Jetzt habe ich überall Schmerzen. Er steckt in meinen Knochen. Und dieses dumme Bein macht die Sache nicht gerade besser.«
»Warum hast du uns nichts gesagt?«
Sie zuckte mit den Schultern. Gallisch, weiblich, eigensinnig.
»Was hätte ich sagen sollen?«
»Warum bist du nicht ins Krankenhaus gegangen?«
Sie schwieg eine Weile.
»Ich bin müde«, sagte sie.
»Müde?«, fragte Joe. »Des Lebens?«
Sie lächelte. »Nein, Joe, ich bin wirklich müde . Es ist spät, und ich muss ins Bett, das meine ich. Morgen reden wir weiter.
Ich versprech’s euch. Wir wollen jetzt keinen großen Wirbel machen.«
Wir ließen sie zu Bett gehen. Uns blieb nichts anderes übrig. Sie war die eigensinnigste Frau, die man sich vorstellen konnte. In der Küche fanden wir reichlich zu essen. Sie hatte für uns eingekauft. Das war offensichtlich. Ihr Kühlschrank war voll gepackt mit Lebensmitteln, die eine Frau, die ihren Appetit verloren hatte, bestimmt nicht
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