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08-Die Abschussliste

08-Die Abschussliste

Titel: 08-Die Abschussliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Mutter zu Fuß. Sie war in einen dicken Wintermantel gehüllt und kam, bei uns beiden untergehakt, nur langsam schlurfend voran. Aber ich glaube, dass sie die frische Luft genoss. Die Rue Monsieur le Prince im 6. Arrondissement kreuzt die Ecke zwischen dem Boulevard St-Germain und dem Boulevard St-Michel. Sie ist vermutlich die für Paris typischste Straße der gesamten Innenstadt. Schmal, vielgestaltig, leicht heruntergekommen, von hohen Fassaden gesäumt, sehr belebt. Das Polidor ist ein berühmtes altes Restaurant, in dem man das Gefühl hat, hier hätten schon alle möglichen Leute gespeist: Gourmets, Spione, Maler, Flüchtlinge, Gendarmen, Räuber.
    Wir bestellten alle das gleiche, dreigängige Menu: Terrine de cailles, porc aux pruneaux, dames blanches. Dazu tranken wir einen sehr guten Rotwein. Aber unsere Mutter aß und trank nichts. Sie sah uns nur zu. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie Schmerzen hatte. Joe und ich aßen verlegen und ohne wirklichen Appetit. Sie sprach ausschließlich über die Vergangenheit. Aber sie wirkte nicht traurig. Sie rief sich schöne Zeiten ins Gedächtnis zurück. Sie lachte. Sie fuhr mit dem Daumen über die Narbe auf Joes Stirn und schimpfte mich nach alter Gewohnheit dafür aus, dass ich sie ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte. Ich krempelte meinen Ärmel auf, wie ich’s immer tat, und zeigte ihr, wo er mich dafür mit einem Meißel verletzt hatte, und nun schimpfte sie ihn aus. Sie redete über Geschenke, die wir für sie in der Schule gebastelt, über Kindergeburtstage, die sie organisiert hatte - auf einsamen Militärstützpunkten in der Wüste oder in Schnee und Eis. Sie sprach von unserem Vater, wie sie ihn in Japan kennen gelernt und in Holland
geheiratet hatte, von seiner Unbeholfenheit, von den beiden einzigen Blumensträußen, die sie in ihren gemeinsamen zweiunddreißig Jahren von ihm bekommen hatte: einen zu Joes, einen zu meiner Geburt.
    »Warum hast du es uns nicht schon vor einem Jahr gesagt?«, fragte Joe.
    »Ihr wisst, weshalb«, antwortete sie.
    »Weil wir versucht hätten, dich umzustimmen«, sagte ich.
    Sie nickte.
    »Das war eine Entscheidung, die nur ich treffen konnte«, erklärte sie.
     
    Nach dem Essen bestellten wir Kaffee, und Joe und ich rauchten Zigaretten. Dann brachte der Ober die Rechnung, und wir baten ihn, uns ein Taxi zu rufen. Wir fuhren schweigend in die Avenue Rapp zurück und gingen zu Bett, ohne noch viel zu reden.
     
    Auch am vierten Tag des neuen Jahrzehnts wachte ich früh auf. Hörte Joe in der Küche französisch reden. Als ich dazukam, sprach er mit einer lebhaften jungen Frau. Sie trug ihr braunes Haar ziemlich kurz und hatte leuchtende Augen. Sie erklärte mir, sie sei die Pflegerin, auf die meine Mutter aufgrund einer vor vielen Jahren abgeschlossenen Zusatzversicherung Anspruch habe. Normalerweise kam sie jeden Tag, war aber auf Bitte meiner Mutter gestern nicht erschienen. Sie erzählte mir, unsere Mutter habe einen Tag allein mit ihren Söhnen verbringen wollen. Ich fragte sie, wie lange sie bei jedem ihrer Besuche bleibe. Jeweils so lange wie nötig, antwortete sie. Die Versicherung komme sogar für eine Vollzeitpflege auf, die ihrer Einschätzung nach sehr bald nötig werden würde.
     
    Nachdem die junge Frau mit den leuchtenden Augen sich verabschiedet hatte, duschte ich und packte meinen Seesack. Joe kam herein und sah mir dabei zu.
    »Du reist ab?«, fragte er.

    »Das tun wir beide, wie du weißt.«
    »Wir sollten bleiben.«
    »Wir sind gekommen. Das hat sie sich gewünscht. Nun will sie, dass wir gehen.«
    »Glaubst du?«
    Ich nickte. »Gestern Abend im Polidor haben wir Abschied voneinander genommen. Sie möchte jetzt in Ruhe gelassen werden.«
    »Das bringst du über dich?«
    »Das will sie. Und wir sind’s ihr schuldig.«
    Ich besorgte wieder Frühstücksgebäck in der Rue St-Dominique, und wir aßen es auf französische Art mit großen Schalen Kaffee dazu. Unsere Mutter trug ihr elegantestes Kleid und benahm sich wie eine gesunde junge Frau, die vorübergehend durch ein gebrochenes Bein in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Das musste viel Willenskraft kosten, aber ich erriet, dass sie so in unserer Erinnerung weiterleben wollte. Wir gossen einander Kaffee ein und reichten höflich Butter und Marmelade herum - so wie wir es früher taten, ein altes Familienritual.
    Dann ließ unsere Mutter ein weiteres altes Familienritual wiederaufleben, eines, das viele Male in der Vergangenheit

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