08-Die Abschussliste
Haltung an.
»Hat verdammt lange gedauert«, schimpfte er.
»Ich habe nicht den Ehrgeiz, einen Exerzierwettbewerb zu gewinnen«, sagte ich.
»Welches Interesse hatten Sie an Vassell und Coomer?«
»Die Tagesordnung für eine Kommandeurstagung der Panzertruppe ist verschwunden. Ich muss wissen, ob sie Geheiminformationen enthalten hat.«
»Es hat keine Tagesordnung gegeben«, erwiderte Willard. »Das haben Vassell und Coomer unmissverständlich erklärt. Mir genauso wie Ihnen. Dienstliche Fragen sind zulässig. Die dürfen Sie jederzeit stellen. Aber einem höheren Offizier bewusst nicht zu glauben, ist respektlos. Das grenzt fast an Renitenz.«
»Sir, solche Ermittlungen sind mein Beruf. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Tagesordnung gegeben hat.«
Diesmal sagte Willard nichts.
»Darf ich fragen, wo Sie bisher waren?«
Er rutschte auf seinem Stuhl herum.
»Nachrichtendienst.«
»Geheimagent? Oder Schreibtischhengst?«
Er gab keine Antwort. Schreibtischhengst .
»Hat’s bei Ihnen Konferenzen ohne Tagesordnung gegeben?«, fragte ich.
Er starrte mich an.
»Direkte Befehle, Major«, sagte er. »Erstens: Sie hören auf, sich für Vassell und Coomer zu interessieren. Unverzüglich. Zweitens: Sie hören auf, sich für General Kramer zu interessieren. Wir wollen nicht, dass der Fall breitgetreten wird, nicht unter den gegebenen Umständen. Drittens: Sie beenden Leutnant Summers Beteiligung an Ermittlungen unserer Einheit. Sofort. Sie ist eine kleine Militärpolizistin, und nachdem ich ihre Personalakte gelesen habe, bleibt sie das auch, soweit ich Einfluss darauf habe. Viertens: Sie versuchen nicht, nochmals Kontakt mit den Zivilisten aufzunehmen, die Sie verletzt haben. Und fünftens: Sie versuchen nicht, den Augenzeugen, der in dieser Sache gegen Sie ausgesagt hat, ausfindig zu machen.«
Ich schwieg.
»Haben Sie die Befehle verstanden?«, schnarrte er.
»Ich hätte sie gern schriftlich«, sagte ich.
»Mündlich genügt. Haben Sie die Befehle verstanden?«
»Ja«, sagte ich.
»Wegtreten.«
Ich zählte eintausend, zweitausend, dreitausend . Dann salutierte ich und machte kehrt. Ich kam fast bis zur Tür, bevor er seinen letzten Schuss abfeuerte.
»Wie ich höre, sind Sie ein großer Star, Reacher«, erklärte er. »Also müssen Sie sich jetzt entscheiden, ob Sie ein großer Star bleiben oder ein arroganter Klugscheißer werden wollen. Und Sie sollten daran denken, dass niemand arrogante Klugscheißer leiden kann. Außerdem sollten Sie nicht vergessen, dass Sie an einem Punkt angelangt sind, an dem es darauf ankommt, ob die Leute Sie mögen oder nicht. Darauf wird’s sehr ankommen.«
Ich schwieg.
»Drücke ich mich klar genug aus, Major?«
»Kristallklar.«
Ich legte eine Hand auf die Klinke.
»Noch etwas«, sagte er. »Die Beschwerde wegen Brutalität und Körperverletzung lasse ich unbearbeitet. So lange ich irgend kann. Aus Respekt vor Ihren bisherigen Erfolgen. Sie können
wirklich von Glück sagen, dass die Beschwerde intern eingegangen ist. Aber Sie müssen sich bewusst sein, dass sie weiterhin existiert.«
Ich verließ Rock Creek kurz vor siebzehn Uhr. Fuhr mit einem Bus nach Washington, D. C., und mit einem weiteren auf der I 95 nach Süden. Dann entfernte ich meine Kragenabzeichen und legte die letzten dreißig Meilen nach Fort Bird per Anhalter zurück. So wurde ich schneller mitgenommen. Die einheimischen Autofahrer waren hauptsächlich Mannschaftsdienstgrade, ehemalige Soldaten oder ihre Angehörigen, und die meisten von ihnen standen Militärpolizisten misstrauisch gegenüber. Aus Erfahrung wusste ich, dass man ohne MP-Abzeichen schneller vorankam.
Ich hatte Glück und wurde wenige Minuten nach dreiundzwanzig Uhr am vierten Januar ungefähr zweihundert Meter vor dem Haupttor abgesetzt - nach etwas über sechs Stunden auf der Straße. North Carolina war stockfinster und kalt. So kalt, dass ich die zweihundert Meter joggte, damit mir wieder warm wurde. Dort kam ich außer Atem an. Ich wurde eingelassen und trabte zu meiner Dienststelle weiter. Drinnen war es behaglich warm. Die Sergeantin mit dem kleinen Sohn hatte Nachtdienst. Sie kochte gerade Kaffee und reichte mir einen Becher. Ich ging damit in mein Büro und fand auf dem Schreibtisch eine Notiz von Summer vor, die mit einer Büroklammer an einem schmalen grünen Ordner befestigt war. Der Ordner enthielt drei Listen. Die Frauen-mit-Humvees-Liste, die Frauenaus-Irwin-Liste und die aus dem Wachbuch am Haupttor kopierten
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