08 - Im Angesicht des Feindes
zwischen den Zähnen hatten, würden sie unaufhörlich daran herumnagen, um ans Mark zu gelangen, den Grund, warum sie die Polizei nicht eingeschaltet hatte. Wenn sie sie mit Fragen bedrängten, war das eine Sache. Sie war es gewohnt, ihre Attacken zu parieren, und selbst wenn sie nicht das Geschick besessen hätte, überzeugend an der Wahrheit vorbeizureden, war sie doch die Mutter des Opfers, und wenn sie sich weigerte, Fragen zu beantworten, die ihr die Journalisten über die Straße zuriefen, würde kein Mensch argwöhnen, daß sie ihnen nur ausweichen wollte. Bei Alex hingegen war das eine ganz andere Sache.
Sie konnte ihn vor sich sehen, in ein wütendes Wortgefecht mit einem Dutzend Reporter verwickelt, die ihm Fragen entgegenschleuderten, von denen eine provokativer als die andere war. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er in Rage geriet, alle Selbstbeherrschung verlor und ihnen genau die Story lieferte, die sie haben wollten. »Ich werde Ihnen sagen, warum wir die gottverdammte Polizei nicht eingeschaltet haben«, würde er wütend rufen. Und anstatt nach Ausflüchten zu suchen, würde er auf die Wahrheit zurückgreifen. Sicher nicht mit Absicht. Er würde etwa so anfangen: »Wir haben die Polizei nicht eingeschaltet, weil wir Leute wie Sie gefürchtet haben, wenn Sie's genau wissen wollen.« Worauf sie fragen würden, was er damit meinte. »Na, Ihre bedingungslose Jagd nach einer gottverdammten Story. Gott beschütze uns alle, wenn Sie hinter einer Story her sind.« Heißt das, Sie wollten Mrs. Bowen vor einer Story schützen? Warum? Vor was für einer Story? Hat sie denn etwas zu verbergen? »Unsinn! Nein!« Und so würde es weitergehen. Mit jeder Frage würde sich die Schlinge enger zuziehen, würden sie der Wahrheit näher kommen. Er würde ihnen nicht alles sagen. Aber er würde ihnen genug sagen. Und deshalb war es lebenswichtig, dafür zu sorgen, daß er nicht mit der Presse sprach.
Er brauchte noch eine Tablette, sagte sich Eve. Wahrscheinlich sogar zwei, damit er die Nacht durchschlafen konnte. Schlaf war so wichtig wie Schweigen. Ohne Schlaf riskierte man, die Kontrolle zu verlieren. Sie machte Anstalten aufzustehen, stemmte sich auf dem Ellbogen in die Höhe. Sie nahm seine Hand, drückte sie kurz an ihre Wange und schob sie aufs Bett hinunter.
»Wohin -«
»Ich hole die Tabletten, die der Arzt uns gegeben hat.«
»Noch nicht«, sagte er.
»Erschöpfung hilft uns nicht weiter.«
»Aber die Tabletten bringen nur Aufschub. Das weißt du doch.«
Sie war augenblicklich argwöhnisch. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, doch die Dunkelheit, die sie geschützt hatte, tat nun das gleiche für ihn.
Er setzte sich auf. Einen Moment lang sah er auf seine langen Beine hinunter, einen Moment, den er zu nutzen schien, um sich zu sammeln. Dann zog er sie zu sich hoch. Er legte seinen Arm um sie und sprach mit dem Mund dicht an ihrem Kopf.
»Eve, hör mir zu. Du bist hier sicher. In Ordnung? Hier bei mir bist du absolut sicher.«
Sicher, dachte sie.
»Hier, in diesem Zimmer, kannst du loslassen. Ich fühle nicht, was du fühlst - das kann ich nicht, ich bin nicht ihre Mutter, ich will mir nicht anmaßen, verstehen zu wollen, was eine Mutter in einer solchen Zeit fühlt - aber ich habe sie geliebt, Eve, ich -« Er brach ab. Sie konnte hören, wie er schluckte in dem Bemühen, seinen Schmerz zu beherrschen.
»Wenn du die Tabletten weiter nimmst, verschiebst du nur den Schmerz und die Trauer, die du durchmachen mußt. Das hast du bis jetzt getan, nicht wahr? Und du hast es getan, weil ich völlig zusammengeklappt bin. Wegen meiner Bemerkung neulich abend, daß du im Grunde gar nicht hier lebst und Charlie im Grunde überhaupt nicht kennst. Das tut mir so leid. Ich habe einfach einen Moment die Fassung verloren. Aber du sollst wissen, daß ich jetzt für dich da bin. Hier bei mir kannst du dich gehenlassen.«
Und dann wartete er. Sie wußte genau, was sie jetzt hätte tun sollen: sich ihm zuwenden, um Trost bitten, eine glaubhafte Äußerung von Schmerz produzieren. Kurzum, sie sollte aufhören, sich zu verstecken, und ihren Schmerz wenigstens in Gesten ausdrücken, wenn sie schon keine Worte fand.
»Laß deinen Gefühlen freien Lauf«, murmelte er. »Ich bin ja bei dir.«
Sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Als sie ihn gefunden hatte, senkte sie den Kopf und zwang die Spannung aus ihrem Körper. »Ich kann nicht -« Sie holte hörbar Atem. »In mir tobt es, Alex.«
»Das ist kein
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