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08 - Im Angesicht des Feindes

08 - Im Angesicht des Feindes

Titel: 08 - Im Angesicht des Feindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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freundlichen finanziellen Unterstützung meines Vaters ein leichtes Leben -, während alle diese Menschen verhungern oder an der Ruhr oder der Cholera sterben.« Sie sah ihn an. Ihre Augen glänzten, aber nicht vor Glück. »Das Schicksal ist gemein, nicht? Ich bin hier und lebe im Überfluß. Sie sind dort und haben nichts. Ich finde keine Rechtfertigung dafür. Wie soll ich da einen Ausgleich finden?« Sie ging zum Schrank und nahm den pflaumenfarbenen Morgenrock heraus, der zum Nachthemd gehörte. Sie legte ihn sorgsam aufs Bett, band den Gürtel zu einer Schleife und begann, ihn zusammenzulegen.
    »Was tust du da, Helen?« fragte er. »Du hast doch nicht etwa vor ...«
    Als sie aufblickte und er ihr unglückliches Gesicht sah, hielt er inne.
    »Nach Afrika zu gehen?« sagte sie. »Meine Hilfe anzubieten? Ich? Helen Clyde? Das ist wirklich absurd!«
    »Ich wollte nicht -«
    »Du meine Güte, wenn ich das täte, würde ich mir womöglich die Nägel ruinieren.« Sie legte den Morgenrock zu den anderen Sachen, kehrte zum Schrank zurück, schob schnell ein paar Bügel weiter und zog ein korallenrotes Sommerkleid heraus. »Außerdem«, fuhr sie fort, »wäre das doch völlig untypisch für mich. Ich meine, daß ich mich auf Kosten meiner Fingernägel nützlich mache.«
    Sie faltete das Sommerkleid. Die schweigende Konzentration, mit der sie jedes einzelne Kleidungsstück zusammenlegte, zeigte ihm, wieviel Unausgesprochenes zwischen ihnen lag. Er wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
    »Da habe ich mir gedacht«, sagte sie, »ich könnte ihnen wenigstens ein paar Anziehsachen schicken. Und bitte sag mir jetzt nicht, wie albern das ist.«
    »Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.«
    »Ich weiß nämlich selbst, wie es aussieht: Marie Antoinette, die den verarmten Bauern Kuchen anbietet. Was soll eine Afrikanerin, die nichts zu beißen hat, mit einem seidenen Morgenrock anfangen, wenn sie in Wirklichkeit Essen, Medikamente und ein Dach über dem Kopf braucht, ganz zu schweigen von Hoffnung?«
    Sie legte das Sommerkleid in den Karton. Dann ging sie wieder zum Schrank und schob weitere Bügel zur Seite. Als nächstes wählte sie ein Wollkostüm. Sie trug es zum Bett. Sie säuberte es mit einer Kleiderbürste, prüfte die Knöpfe, fand einen, der lose war, und ging zur Kommode. Aus einer der Schubladen, die auf dem Boden lagen, nahm sie einen kleinen Bastkorb. Sie suchte Nadel und Faden heraus und versuchte zweimal vergeblich einzufädeln.
    Lynley ging zu ihr. Er nahm ihr die Nadel aus der Hand.
    »Geh nicht meinetwegen so mit dir um«, sagte er. »Du hattest recht. Ich war nicht über den Tod des Kindes außer mir. Ich war wütend, weil du mich belogen hattest. Und jetzt tut mir das alles entsetzlich leid.«
    Sie senkte den Kopf. Das Licht der Lampe, die auf der Kommode stand, fing sich in ihrem Haar. Wenn sie den Kopf bewegte, schimmerte es cognacfarben.
    »Ich hoffe von Herzen«, fuhr er fort, »daß du mich an jenem Abend von meiner schlimmsten Seite erlebt hast. Wenn es um dich geht, ergreift irgend etwas Primitives von mir Besitz und untergräbt meine ganze Erziehung. Das Resultat hast du gesehen. Ich bin gewiß nicht stolz darauf. Verzeih mir. Bitte.«
    Sie antwortete nicht. Lynley wünschte, er könnte sie in die Arme nehmen. Aber er versuchte nicht einmal, sie zu berühren, weil er plötzlich Angst hatte, zum erstenmal Angst davor hatte, was es bedeuten könnte, wenn sie ihn jetzt zurückwies. Darum wartete er klopfenden Herzens auf ihre Reaktion.
    Ihre Stimme war leise, als sie zu sprechen begann. Sie hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Karton mit den Kleidern gerichtet. »Zuerst habe ich mich in Empörung gerettet«, sagte sie. »Wie kann er es wagen, dachte ich. Was bildet er sich ein, wer er ist?«
    »Du hattest recht«, sagte Lynley. »Helen, du hattest völlig recht.«
    »Aber dann hat Deborah mir den Boden unter den Füßen weggezogen.« Sie schloß die Augen, als wollte sie ein Bild verdrängen, und räusperte sich, als wollte sie ein aufsteigendes, heftiges Gefühl loswerden. »Simon wollte von Anfang an nichts mit der Sache zu tun haben. Aber Deborah hat ihn überredet, doch etwas zu tun. Und jetzt fühlt sie sich für Charlottes Tod verantwortlich. Sie hat Simon nicht einmal erlaubt, dieses Foto wegzuwerfen. Sie hat es mit nach oben genommen, als ich ging.«
    Lynley hätte sich nicht vorstellen können, daß er sich nach dem, was zwischen ihm und seinen Freunden vorgefallen

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