08 - Im Angesicht des Feindes
gleiche Kinn wie seine Schwester, die gleiche hohe Stirn wie er selbst, die gleiche Nase und den gleichen Mund wie Leo. Sie war so unverkennbar seine Tochter, als trüge sie seinen Namen, der ihr verwehrt worden war.
Und er wußte nichts von ihr. Er wußte nicht, was ihre Lieblingsfarbe gewesen war, welche Schuhgröße sie gehabt hatte, welche Geschichten sie abends im Bett am liebsten gelesen hatte. Er hatte keine Ahnung, was für Wünsche und Hoffnungen sie gehegt hatte, was für Phasen sie durchgemacht hatte, was für Träume sie geträumt hatte. Solches Wissen war der Lohn der Verantwortung. Indem er die eine abgegeben hatte, hatte er das andere verwirkt. Oh, gewiß, er hatte seiner Vaterschaft mit einem monatlichen Besuch bei Barclay's Bank Rechnung getragen, hatte eine Viertelstunde lang, während er zum Zweck der eigenen Entlastung Überweisungen geschrieben hatte, offizielle Vaterpflichten erfüllt. Aber weiter war seine Anteilnahme am Leben seiner Tochter nicht gegangen, eine Anteilnahme, die in Wirklichkeit gar keine war, da sie, wenn auch scheinbar von der Sorge bestimmt, Charlottes Zukunft über seinen Tod hinaus zu sichern, doch nur den einen Sinn gehabt hatte, sein Gewissen zu beruhigen, solange er am Leben war.
Es war ihm völlig richtig erschienen. Evelyn hatte an ihren Wünschen keinen Zweifel gelassen. Da er in einer, wie er gern glauben wollte, für ihn untypischen Entfaltung männlicher Egozentrik sie zur Geschädigten bestimmt hatte, sei es, sagte er sich, nur anständig, ihren Wünschen nachzukommen. Und es war so leicht, ihnen nachzukommen. Sie hatte sie ihm in sieben simplen Worten klargemacht. »Halt dich aus unserem Leben heraus, Dennis.« Er hatte es gern getan.
Luxford legte die Bilder nebeneinander auf seinem Schreibtisch aus. Mit dem Vergrößerungsglas betrachtete er jedes von ihnen ein zweites, ein drittes und dann ein viertes Mal. Und er fragte sich dabei, ob dieses Kind, das er durch das Glas studierte, Musik geliebt hatte, ob es Brokkoli gemocht hatte, sich geweigert hatte, Pilze zu essen, über den Onkel gegangen war, die Narnia-Bücher gelesen hatte, Fahrrad gefahren war, sich irgendwann einmal etwas gebrochen hatte. Ihre Gesichtszüge kennzeichneten sie als sein Kind, aber seine Unwissenheit über sie zwang ihn zu bekennen, daß sie niemals sein Kind gewesen war. Das war heute so klar wie vier Monate vor ihrer Geburt.
Halt dich aus unserem Leben heraus, Dennis.
Na gut, hatte er gedacht.
Und jetzt war seine Tochter tot. Eben weil er sich aus ihrem Leben herausgehalten hatte, wie Evelyn es gewünscht hatte. Hätte er es abgelehnt, auf diesen Wunsch einzugehen, wäre Charlotte niemals entführt worden. Es hätte keine Forderungen an ihn gegeben, seine Vaterschaft anzuerkennen, weil sie aller Welt bekannt gewesen wäre, auch Charlotte.
Luxford berührte ihren Kopf auf der Fotografie und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Haar sich angefühlt haben mochte. Er konnte es nicht. Er konnte sich überhaupt keine Vorstellung von ihr machen.
Seine Unwissenheit quälte ihn tief. Ebenso wie das, was diese Unwissenheit über seinen menschlichen Wert aussagte.
Luxford legte das Vergrößerungsglas auf einem der Bilder ab. Er drückte Daumen und Zeigefinger gegen seinen Nasenrücken und schloß die Augen. Sein Leben lang war er der Macht nachgelaufen. Jetzt suchte er das Gebet. Irgendwo mußte es Worte geben, die lindern konnten ...
»Ich hätte Sie gern einen Moment gesprochen, Dennis.«
Er hob ruckartig den Kopf. In einem Reflex senkte er seinen Arm auf den Schreibtisch und bedeckte mit ihm die Bilder. An der Tür zu seinem Büro stand der einzige Mensch, der es wagte, bei ihm einzudringen, ohne vorher anzuklopfen oder Miß Wallace zu bitten, ihn beim Chefredakteur anzumelden: der Aufsichtsratsvorsitzende der Source, Peter Ogilvie. »Darf ich«, sagte er, und der Blick seiner seelenlosen grauen Augen flog zum Konferenztisch. Die Frage war reine Formsache. Ogilvie war offensichtlich entschlossen hereinzukommen, ob er nun dazu aufgefordert wurde oder nicht.
Luxford stand hinter seinem Schreibtisch auf. Ogilvie trat ins Zimmer, voran die buschigen Augenbrauen, so lange ungestutzt, daß die einzelnen Härchen sich bis zur Stirn hinauf drehten. Die beiden Männer trafen in der Mitte des Raums zusammen. Luxford bot dem andern die Hand. Ogilvie klatschte eine gefaltete Zeitung hinein.
»Zweihundertzwanzigtausend Exemplare«, sagte er. »Damit meine ich natürlich,
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