08 - Im Angesicht des Feindes
Luft war angenehmer, da die Metallplatte und die Bretter vor der Haustür entfernt worden waren, um ihnen ungehinderten Zugang zu dem Gebäude zu ermöglichen. Sie schleppten die Teppichrolle durch diese Tür hinaus und bugsierten sie in einen Lieferwagen, der auf der Straße bereitstand. Nkata nahm sich danach viel Zeit, um sein »schickes Jäckchen« zu säubern.
Wieder draußen im Freien, ließ sich Lynley durch den Kopf gehen, was der Constable ihm berichtet hatte. Es war sicher richtig, daß die örtliche Polizei bei der großen Anzahl von Touristen, die hier auf der Suche nach dem Regent's Park, dem Wachsmuseum oder dem Planetarium herumwanderten, nicht jeden Stadtstreicher im Gedächtnis behielt, den sie verscheuchte. Dennoch bestand die Möglichkeit, daß jemand den Mann mit Hilfe der Skizze würde identifizieren können. »Sie müssen sich noch mal mit den zuständigen Kollegen unterhalten, Winston«, sagte er. »Lassen Sie die Zeichnung in der Kantine herumgehen. Vielleicht fällt jemandem was ein.«
»Okay, aber es gibt da noch ein kleines Problem, das Ihnen sicher nicht gefallen wird«, erwiderte Nkata. »Sie haben zwanzig Hilfspolizisten bei der Truppe.«
Lynley fluchte leise vor sich hin. Zwanzig ehrenamtliche Hilfspolizisten - Freiwillige aus dem Bezirk, die Uniform trugen und Streife gingen wie jeder andere Polizeibeamte -, das hieß zwanzig weitere Personen, die den Stadtstreicher gesehen haben konnten. Die Komplikationen in diesem Fall schienen mit jeder Stunde, die verstrich, exponential zuzunehmen.
»Dann müssen Sie denen die Skizze auch zeigen«, sagte Lynley.
»Keine Sorge. Wird gemacht.« Nkata zog sein Jackett aus und inspizierte die Schulter, auf der er den Teppich getragen hatte. Zufrieden mit dem, was er sah, zog er es wieder über und richtete die Manschetten seines Hemdes.
Mit einem nachdenklichen Blick auf das Haus, das sie soeben verlassen hatten, sagte er zu Lynley: »Meinen Sie, daß die Kleine hier festgehalten worden ist?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Lynley. »Es ist möglich, aber wie es im Moment aussieht, kann sie überall in London versteckt worden sein. Ganz zu schweigen von Wiltshire.«
Automatisch griff er zur Innentasche seines Jacketts, in der er, bevor er vor sechzehn Monaten das Rauchen aufgegeben hatte, stets seine Zigaretten getragen hatte. Unglaublich, wie lange es dauerte, bis so eine Gewohnheit starb. Die Zeremonie des Zigarettenanzündens war in irgendeiner Weise mit seinem Denkprozeß verknüpft. Er mußte das eine tun, um das andere anzuregen. Jedenfalls kam ihm das in Momenten wie diesem so vor.
Nkata hatte offenbar gemerkt, was los war; er kramte in seiner Hosentasche und brachte ein Fruchtbonbon zum Vorschein. Ohne ein Wort reichte er es Lynley und holte sich selbst auch eins heraus. Schweigend packten sie die Süßigkeiten aus, während hinter ihnen in dem heruntergekommenen Haus die Spurensicherung weiterging.
»Drei mögliche Motive«, meinte Lynley. »Aber nur eins davon ergibt wirklich einen Sinn. Es ließe sich argumentieren, daß diese ganze Geschichte ein mißglückter Versuch war, die Auflage der Source -«
»Mißglückt wohl kaum«, widersprach Nkata.
»Mißglückt insofern, als es unmöglich Dennis Luxfords Absicht gewesen sein kann, das Kind sterben zu lassen. Aber wenn das unser Motiv ist, müssen wir immer noch nach dem darunterliegenden Grund suchen. War Luxford in Gefahr, seine Stellung zu verlieren? Hat ein anderes Blatt der Source einen Teil der Werbeeinnahmen weggenommen? Was ist in seinem Leben passiert, das ihn zu einer solchen Tat getrieben haben könnte?«
»Vielleicht ist beides passiert«, meinte Nkata. »Schwierigkeiten in der Arbeit. Und Verlust von Werbeeinnahmen.«
»Oder wurden beide Verbrechen - die Entführung und der Mord - von Eve Bowen eingefädelt, die sich damit in Szene setzen und öffentliche Anteilnahme erregen wollte?«
»Also, das war ja wirklich eiskalt«, sagte Nkata.
»Stimmt. Aber sie ist Politikerin, Winston. Sie möchte Premierministerin werden. Sie hat einen rasanten Aufstieg gemacht, aber vielleicht ist es ihr bis ganz nach oben immer noch zu langsam gegangen. Sie hat überlegt, wie sie den Weg abkürzen könnte, und hat ihre Tochter als das geeignete Mittel dazu gesehen.«
»Da müßte sie ein echtes Ungeheuer sein. Das ist einfach unnatürlich.«
»Hat sie auf Sie natürlich gewirkt?«
Nkata lutschte gedankenvoll an seinem Fruchtbonbon. »Tja, sehen Sie, das ist so«, sagte er
Weitere Kostenlose Bücher