08 - Im Angesicht des Feindes
ungeduldig in den Kulissen stehen, die zweite Garnitur, die inbrünstig hofft, daß aus dem symbolischen ›Hals- und Beinbruch‹ für die Hauptdarstellerin Realität wird. Habe ich recht? Nein, Sie brauchen mir gar nicht zu antworten. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Aber Ihre Frage zeigt, wie wenig Sie sich in der Politik auskennen.«
»Dennoch möchte ich Sie bitten, sie zu beantworten«, versetzte Lynley.
»Ich habe nichts gegen den Feminismus an sich, aber ich finde, und das gebe ich ohne weiteres zu, daß die Bewegung immer mehr außer Kontrolle gerät, besonders im Parlament. Wir haben weiß Gott Wichtigeres zu tun, als uns den Kopf darüber zu zerbrechen, ob in Westminster Tampons und Nylonstrümpfe verkauft werden sollten oder ob für weibliche Abgeordnete mit kleinen Kindern eine Krippe eingerichtet werden soll. Das Parlament ist das Zentrum unserer Regierung, Inspector. Diese Dinge gehören ins Sozialministerium.«
Einem Politiker eine klare Antwort zu entlocken, dachte Lynley, war etwa so mühsam wie der Versuch, eine eingeölte Schlange mit einem Zahnstocher aufzuspießen. »Mr. Harvie«, sagte er, »ich möchte keinesfalls, daß Sie zu spät zu Ihrer Ausschußsitzung kommen. Bitte beantworten Sie die Frage. Wer würde davon profitieren?«
»Sie hätten es wohl gern, daß ich mich selbst belaste, nicht wahr, aber ich habe gar nichts davon, wenn Eve Bowen ihren Posten zur Verfügung stellte. Sie ist eine Frau, Inspector. Wenn Sie wissen wollen, wer von ihrem Rücktritt am meisten hätte, dann müssen Sie Ihr Augenmerk auf die anderen Frauen im Parlament richten, nicht auf die Männer. Der Premierminister wird auf keinen Fall eine Angehörige seiner Regierung durch einen Mann ersetzen, ganz gleich, was für Qualifikationen er vorweisen kann. Das verbietet das gegenwärtige Klima, ablesbar am Stand seiner Popularität bei den letzten Umfragen.«
»Und wenn sie auch als Abgeordnete zurücktritt, wer hat dann etwas davon?«
»Sie besitzt in ihrer Position im Innenministerium weit mehr Macht, als sie als einfache Abgeordnete je erlangen kann. Wenn Sie feststellen wollen, wer von ihrem Rücktritt profitieren würde, dann sehen Sie sich die Leute an, über die sie dank ihrer Stellung im Innenministerium die meiste Macht hat. Ich gehöre nicht zu ihnen.«
»Wer dann?«
Er nahm sich wieder von den Nüssen, suchte sich zwei Mandeln aus der Schale, während er die Frage bedachte. »Knastbrüder«, sagte er. »Immigranten, Asylanten.« Er hob eine Mandel zum Mund, hielt jedoch plötzlich inne und senkte die Hand.
»Noch jemand?« fragte Lynley.
Harvie legte die Mandeln behutsam neben seinem Glas ab. Nachdenklich, beinahe wie zu sich selbst, sagte er: »Normalerweise ist so etwas - ich meine, was Eve Bowens Tochter zugestoßen ist - nicht ihre Art, auf ihren Standpunkt aufmerksam zu machen. Und gerade im derzeitigen Klima der Entspannung und Zusammenarbeit ... Aber wenn sie wirklich zurücktreten sollte, hätten sie einen Feind weniger ...«
»Wer?«
Harvie blickte auf. »Angesichts des Waffenstillstands und der fortlaufenden Verhandlungen kann ich mir wirklich nicht vorstellen, daß ihnen daran liegt, die Atmosphäre von neuem aufzuheizen. Aber trotzdem ...«
»Waffenstillstand? Verhandlungen? Sprechen Sie von -«
»Ja«, antwortete Harvie ernst. »Von der IRA.«
Eve Bowen, erklärte er, gehörte seit langem zu den Leuten im Parlament, die in der IRA-Frage die härteste Linie vertraten. Die Friedensentwicklungen in Nordirland hatten ihren Argwohn über die ihrer Meinung nach wirklichen Absichten der IRA nicht zerstreuen können. In der Öffentlichkeit legte sie natürlich zu den Bemühungen des Premierministers, die irische Frage zu lösen, ein Lippenbekenntnis ab. Privat machte sie keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, daß die INLA - die Irish National Liberation Army, die immer schon extremer als die IRA war - sich neu organisieren und als aktive und gewalttätige Kraft gegen den Friedensprozeß in Erscheinung treten würde.
»Sie ist der Auffassung, daß die Regierung mehr tun müßte, um sich auf den Moment vorzubereiten, wo die Gespräche abbrechen oder die INLA losschlägt«, erklärte Harvie.
Ihrer Überzeugung nach müsse die Regierung bereit sein, mögliche Probleme bei der Wurzel zu packen; sie dürfe nicht riskieren, sich neuerlich einem Jahrzehnt von Bombenanschlägen im Hyde-Park und am Oxford Circus auszusetzen.
»Und wie soll die Regierung das ihrer Meinung nach
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