08 - Im Angesicht des Feindes
nach einer kurzen Stille sagte er in einem Ton, der in Anbetracht der Umstände bemerkenswert selbstsicher war: »Wo ist meine Mutter? Ich muß mit ihr sprechen.«
Lynley befahl Nkata, Payne seine Rechte zu verlesen. Einem der anderen Constables von der Dienststelle Amesford trug er auf, über Funk einen Arzt auf die Dienststelle zu bestellen. Während Nkata Payne auf seine Rechte hinwies und der andere Beamte davonging, um den Arzt anzufordern, beobachtete Lynley schweigend den jungen Mann, der Tod, Ruin und Verzweiflung über eine Gruppe von Menschen gebracht hatte, die er nie kennengelernt hatte.
Trotz der Verletzungen, die Paynes Gesicht entstellten, konnte Lynley darin noch die jugendliche - und falsche - Unschuld erkennen. Es war eine oberflächliche Unschuld, die ihm in Verbindung mit einer Maske, die kein Beobachter für eine Maske gehalten hätte, gewiß gute Dienste geleistet hatte. In die Uniform gekleidet, die er als einfacher Constable vor seiner Versetzung zur Kriminalpolizei getragen hatte, hatte er Jack Beard aus dem Cross Keys Close in Marylebone verjagt, und keiner, der die Szene beobachtet hatte, hatte Anlaß gehabt, Verdacht zu schöpfen, daß er ein anderer sein könnte als der, der zu sein er vorgab - ganz bestimmt kein Kidnapper, der sich freie Bahn verschaffte, ehe er sein Opfer verschleppte. In eben diese Uniform gekleidet, das scheinbar unschuldige Gesicht voll guter Absichten, hatte er Charlotte Bowen - und später Leo Luxford - dazu überredet, mit ihm zu gehen. Zweifellos hatte er gewußt, daß Kinder von dem Tag an, da sie die ersten Schritte tun, von ihren Eltern ermahnt werden, nicht mit Fremden zu sprechen. Aber er hatte auch gewußt, daß Kindern immer gesagt wird, der Polizei könnten sie vertrauen. Und Robin Payne hatte ein Gesicht, das zum Vertrauen einlud. Auch das konnte Lynley trotz der Verletzungen erkennen.
Und es war auch ein intelligentes Gesicht, und Intelligenz war erforderlich gewesen, um die Verbrechen, die Payne begangen hatte, zu planen und durchzuführen. Seine Intelligenz hatte ihm geraten, sich während seines Aufenthalts in London in dem leerstehenden Haus in der George Street einzunisten, so daß er in der Zeit, in der er seine Opfer beobachtete, unbekümmert kommen und gehen konnte - sowohl in der Uniform eines Polizeibeamten als auch in der Kleidung eines ganz normalen Bürgers -, ohne das Risiko einzugehen, daß er dem Empfangsangestellten eines Hotels auffallen und dieser ihn später irgendwie mit der Entführung zweier Kinder und der Ermordung eines dieser Kinder in Verbindung bringen würde.
Und seine Intelligenz im Zusammenspiel mit seiner beruflichen Erfahrung hatte ihn dazu veranlaßt, eine falsche Spur zu legen, die die Polizei direkt zu Dennis Luxford führen würde. Denn es war ja von Anfang an seine Absicht gewesen, Dennis Luxford zur Strecke zu bringen, ganz gleich, auf welchem Weg. Es war offensichtlich, daß der Mann, den Payne für seinen Vater gehalten hatte, im Mittelpunkt der Verbrechen stand, die dieser begangen hatte.
Das besonders Grauenvolle lag in der Tatsache, daß sein Rachefeldzug gegen Luxford ein Rachefeldzug gegen ein Hirngespinst gewesen war, das aus einer Lüge geboren war. Es war dieses Wissen, das Lynleys Absichten in sich zusammensinken ließ, als er sich dem Killer gegenübersah.
Ein Kindesentführer. Ein Mörder. Auf der Fahrt zur Burg hatte sich Lynley das erste Zusammentreffen mit diesem Mann plastisch vorgestellt: wie er ihn in die Höhe reißen würde; wie er im Kommandoton den Befehl geben würde, ihm seine Rechte zu verlesen; wie er ihm die Handschellen anlegen und ihn in die Nacht hinausstoßen würde. Kindermörder waren der letzte Dreck auf Erden. Sie verdienten es, entsprechend behandelt zu werden. Und Robin Paynes Ton, als er forderte, mit seiner Mutter zu sprechen - so absolut selbstsicher, so ohne einen Funken Reue -, schien seine Verworfenheit nur noch zu bestätigen. Doch als Lynley den jungen Mann anblickte und das, was er sah, im Licht dessen betrachtete, was er über ihn wußte, verspürte er nur eine tiefe Niedergeschlagenheit.
Die Kluft zwischen der Wahrheit und dem, was Robin Payne für die Wahrheit hielt, war so groß, daß Lynleys Zorn und Empörung sie nicht überspringen konnten. Lynley hörte wieder Corrine Paynes Worte, als Nkata dem jungen Mann die Arme auf den Rücken zog und ihm die Handschellen anlegte.
»Er ist mein kleiner Junge. Sie tun ihm doch nichts. Bitte.« Bei der Erinnerung an
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