08 - Im Angesicht des Feindes
bluttriefend wie ein Vampir reinkäme, würd' ich nicht mal hinschauen. Und selbst der würde mir in diesen Zeiten wohl gar nicht mehr auffallen. Mich interessiert nur, ob die Leute ihr Bier bezahlen können.«
Danach trat sie die Streife durch den Cross Keys Close an. Sie war nie zuvor in einer Gegend Londons gewesen, die so sehr an das finstere Viertel erinnerte, in dem Jack the Ripper sein Unwesen getrieben hatte. Selbst am hellichten Tag war ihr hier unheimlich. Hohe Häuser bedrängten schmale Gassen, in die nur hier und dort durch einen Spalt zwischen den Mauern ein vereinzelter Sonnenstrahl fiel und vielleicht auf einer Vortreppe eine kleine Lichtpfütze bildete. Es war praktisch kein Mensch auf der Straße - was zu der Hoffnung berechtigte, daß die Anwesenheit eines Fremden hier auffallen würde -, aber es war auch in kaum einem der schmalbrüstigen düsteren Häuser jemand daheim.
Damien Chambers' Haus, durch dessen geschlossene Tür die Klänge eines elektrischen Keyboards zu hören waren, mied sie und konzentrierte sich statt dessen auf die Nachbarn des Musiklehrers. Ihre einzigen Begleiter auf dem Weg von Haus zu Haus waren zwei Katzen, die eine rote, die andere getigert, beide mit spitz herausstehenden Hüftknochen, und ein pelziges Geschöpf mit spitzer Schnauze, das auf kurzen dünnen Beinchen an einer Mauer entlanghuschte. Seine Anwesenheit bestärkte sie in ihrer Überzeugung, daß hier nicht gut sein war.
Sie zeigte Charlottes Foto. Sie berichtete von ihrem Verschwinden. Sie wich natürlichen Fragen wie »Wer ist die Kleine?« und »Halten Sie ein Verbrechen für möglich?« geschickt aus und kam nach Klärung der Präliminarien direkt zur Sache: Es spreche einiges dafür, daß das kleine Mädchen entführt worden sei. Ob man in der unmittelbaren Nachbarschaft jemanden bemerkt habe? Der einem verdächtig erschienen sei, der sich auffallend lange in der Straße aufgehalten habe?
Von Nummer drei und Nummer sieben, zwei Frauen, deren Fernsehgeräte das gleiche Hausfrauenprogramm herausplärrten, hörte sie, was sie und Simon am Mittwochabend bereits von Damien Chambers gehört hatten. Der Milchmann, der Briefträger, dieser oder jener Lieferant. Das waren die einzigen Leute, die man hier gesehen hatte. Von Nummer sechs und Nummer neun erntete sie verständnislose Blicke aus stumpfen Gesichtern. Bei einem halben Dutzend anderer erntete sie gar nichts, da niemand zu Hause war. Bei Haus Nummer fünf hatte sie Glück.
Schon als sie an die Tür klopfte, hatte sie das Gefühl, es hier getroffen zu haben. Als sie nämlich am Haus hinaufblickte - geradeso, wie sie sich auf ihrem Weg durch das Wirrwarr von Gassen immer wieder voll Unbehagen umgeblickt hatte -, sah sie an dem einzigen Fenster im ersten Stock durch einen Spalt in den Vorhängen ein zerknittertes altes Gesicht. Sie hob grüßend die Hand und bemühte sich, so freundlich-harmlos wie möglich dreinzuschauen.
»Kann ich Sie einen Moment sprechen?« rief sie hinauf und sah, wie sich die Augen in dem alten Gesicht verengten. Sie lächelte aufmunternd. Das Gesicht verschwand.
Sie klopfte noch einmal. Fast eine Minute verstrich, dann wurde die Tür an vorgelegter Kette einen Spalt geöffnet.
»Vielen Dank«, sagte Helen. »Ich werde Sie nicht lange aufhalten.« Sie holte Charlottes Foto aus ihrer Umhängetasche.
Das zerknitterte Gesicht beobachtete sie argwöhnisch. Helen konnte noch nicht erkennen, ob es einer Frau oder einem Mann gehörte. Die Person, die ihr gegenüberstand, hatte einen grünen Jogginganzug und Tennisschuhe an, die nichts über ihr Geschlecht aussagten.
»Was wollnse?« fragte das Knittergesicht.
Helen zeigte das Foto und berichtete von Charlottes Verschwinden. Eine Hand voller Altersflecken ergriff das Bild und hielt es mit Fingern, deren Nägel rot lackiert waren. Damit war wenigstens die Frage nach dem Geschlecht geklärt, es sei denn, die arme Person war ein alter Transvestit.
»Dieses kleine Mädchen ist verschwunden«, erklärte Helen.
»Möglicherweise hier im Cross Keys Close. Wir versuchen festzustellen, ob sich hier in der letzten Woche jemand herumgetrieben hat.«
»Pewman hat die Polizei angerufen«, sagte die Frau und drückte Helen das Foto wieder in die Hand. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nase und wies mit dem Kopf zu Haus Nummer vier gegenüber. »Pewman«, sagte sie wieder.
»Ich war's nicht.«
»Die Polizei? Wann denn?«
Sie zuckte die Achseln. »Anfang der Woche hat hier ein Penner
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