08 - Im Angesicht des Feindes
die Polizei auf den Hals hetzen. In meinem Müll gab's nicht viel zu holen, und was da war, konnte er gern haben. Es war wahrscheinlich einer der anderen Nachbarn. Vermutlich Miß Schickel von Nummer zehn.« Er verdrehte die Augen und wies mit dem Kopf die Gasse hinunter. »Sie gehört zu denen, die glauben, jeder sei an seinem Unglück selber schuld. Ich hab' den großen Luftangriff durchgemacht und so weiter und so fort. Sie wissen, welchen Typ ich meine? Diese Leute haben keinen Funken Mitgefühl mit den vom Leben Gebeutelten. Sie hat dem Mann wahrscheinlich gedroht, und als er nicht verschwand, wird sie die Polizei angerufen haben. So lange, bis sie jemanden vorbeigeschickt haben, der ihn verscheucht hat.«
»Haben Sie beobachtet, wie er verscheucht wurde?«
Nein, das hatte er nicht gesehen. Er konnte auch nicht genau sagen, wie lange der Mann sich in der Nachbarschaft aufgehalten hatte, aber er wußte, daß es länger als ein Tag gewesen war.
Trotz mangelnder Nachsicht mit ihren weniger glücklichen Mitmenschen hätte Miß Schickel die Polizei sicher nicht geholt, wenn der Mann nur einmal an ihren Müll gegangen wäre.
Ob er sagen könne, an welchem Tag der Penner endlich vertrieben worden war?
Er überlegte einen Moment und meinte dann, das müsse vor etwa zwei Tagen gewesen sein. Am Mittwoch vielleicht. Ja, ganz sicher am Mittwoch, weil ihn mittwochs immer seine Mutter anrufe, und er habe während des Gesprächs mit ihr zum Fenster hinausgesehen und den Penner beobachtet. Seitdem habe er ihn nicht mehr gesehen.
Volltreffer, dachte Helen triumphierend. Endlich eine konkrete Spur.
Die Entdeckung dieser konkreten Spur tröstete St. James etwas über seine eigene Enttäuschung hinweg. Mit dem Segen der Rektorin der Geoffrey-Shenkling-Schule hatte er mit sämtlichen kleinen Mädchen gesprochen, deren Namen auch nur im entferntesten dem Spitznamen Breta ähnelten. Er hatte Albertas, Bridgets, Elizabeths, Berthes, Babettes, Ritas und Britannys jeder Rasse, Konfession und Veranlagung befragt. Manche waren schüchtern. Manche hatten Angst. Manche waren offen und direkt. Manche waren glücklich, für eine Weile dem Unterricht entronnen zu sein. Aber keine von ihnen kannte Charlotte Bowen, weder als Charlotte noch als Lottie, noch als Charlie. Und keine von ihnen war je mit ihren Eltern oder einem anderen Erwachsenen in Eve Bowens Nachmittagssprechstunde gewesen. Mit einer Liste per Schülerinnen, die an diesem Tag fehlten, hatte er die Schule wieder verlassen. Aber er hatte das Gefühl, daß weitere Nachforschungen an der Geoffrey-Shenkling-Schule zu nichts führen würden.
»Und wenn das richtig ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als sämtliche anderen Grundschulen in Marylebone zu überprüfen«, sagte er, »während uns die Zeit davonläuft. Dem Entführer kann das nur recht sein. Weißt du, Helen, wenn mir nicht zwei andere Leute bestätigt hätten, daß Breta tatsächlich eine Freundin Charlottes ist, würde ich wetten, daß Damien Chambers sie sich am Mittwochabend spontan ausgedacht hat, um uns abzuschütteln.«
»Ja, damit hat er uns sofort in eine andere Richtung gewiesen, nicht?« meinte Helen nachdenklich. Sie hatten sich im Rising Sun Pub in der High Street getroffen, wo St. James jetzt mißmutig über einem Glas Guinness saß, während Helen sich mit Weißwein stärkte. Es war die ruhige Zeit zwischen dem Mittag- und dem Abendessen, und abgesehen vom Inhaber, der Gläser polierte und wegräumte, hatten sie den ganzen Tresen für sich.
»Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er sowohl Mrs. Maguire als auch Brigitta Walters dazu überredet haben soll, seine Geschichte zu bestätigen. Warum hätten sie darauf eingehen sollen?«
»Mrs. Maguire ist Irin, richtig? Und Damien Chambers? Sein Akzent ist doch eindeutig irisch.« »Belfast«, sagte St. James.
»Also haben sie vielleicht ein gemeinsames Interesse.«
St. James dachte wieder an Eve Bowens Position im Innenministerium und rief sich ins Gedächtnis, was Mrs. Maguire über das besondere Interesse der Staatssekretärin angedeutet hatte: der IRA die Daumenschrauben anzulegen. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Das ist keine Erklärung für Brigitta Walters' Aussage. Weshalb sollte sie über Breta dasselbe erzählen, wenn es nicht wahr ist?«
»Vielleicht begrenzen wir uns bei unserer Suche nach Breta zu sehr«, meinte Helen. »Wir halten sie für eine Freundin aus der Schule oder aus der Nachbarschaft. Aber Charlotte könnte das
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