08 - Im Angesicht des Feindes
die Wahrheit«, erwiderte St. James.
Deborah wirkte nicht überzeugt. Ihre Erfahrung auf diesem besonderen Arbeitsgebiet beschränkte sich auf eine einzige Episode heimlichen Eindringens in eine fremde Wohnung, und das war vor vier Jahren und unter Helens Führung gewesen. Sie war einfach hinterhergetappt.
»Denk einfach an Miß Marple, Deb«, riet ihr Helen.
»Oder an Tuppence. Denk an Tuppence. Oder Harriet Vane.«
Deborah hatte sich schließlich einverstanden erklärt. Sie würde ihre Kameraausrüstung mitnehmen, gewissermaßen als Schirm und Schutz gegen das Unbekannte. »Es ist ja schließlich eine Zeitung«, erklärte sie besorgt, um zu verhindern, daß St. James und Helen sie ungewappnet aus dem Haus jagten. »Wenn ich meine Ausrüstung dabeihabe, komme ich mir wenigstens nicht ganz so komisch vor. Die haben da doch auch Fotografen, oder? Ja, ganz sicher. Natürlich arbeiten bei einer Zeitung auch Fotografen.«
»Inkognito!« rief Helen. »He, das ist brillant. Keiner, der dich sieht, wird sich wundern, warum du da bist, und Mr. Luxford wird dir für deine Rücksichtnahme so dankbar sein, daß er dir mit Freuden die Schriftprobe geben wird. Deborah, du bist ein Genie.«
Deborah hatte gelacht. Man konnte stets auf ihre Bereitschaft zählen, sich mit einem gutmütigen Scherz aus ihrer schüchternen Zurückhaltung herauslocken zu lassen. Sie hatte ihre Ausrüstung geholt und sich auf den Weg gemacht. Und St. James war mit Helen ebenfalls losgefahren.
Er hatte sie an der Ecke Marylebone High Street und Marylebone Lane abgesetzt und war selbst in westlicher Richtung zur Edgware Road weitergefahren. Seitdem war Helen mit ihren Fragen von Haus zu Haus gegangen. In den Geschäften in der Marylebone Lane hatte sie angefangen, immer wieder dieselben Fragen gestellt, immer wieder Charlottes Foto gezeigt, dabei gewissenhaft darauf bedacht, ja nicht den Namen des Kindes zu nennen, nach dem sie suchte. Am meisten hatte sie sich vom Eigentümer des Golden Hind Fish & Chip Shop erhofft. Da Charlotte dort jeden Mittwoch vor ihrer Musikstunde einzukehren pflegte, gab es für einen heimlichen Beobachter wohl kaum einen besseren Posten als einen der fünf wackligen Tische im Golden Hind. Einer davon eignete sich besonders als Ausguck; er stand versteckt in einer Ecke hinter einem Spielautomaten, jedoch mit unverstelltem Blick auf jeden, der die Marylebone Lane herunterkam.
Doch trotz Helens beschwörender Ermutigung »Es kann ein Mann gewesen sein oder auch eine Frau, es kann jemand gewesen sein, den Sie vorher noch nie hier gesehen haben«, schüttelte der Ladeninhaber nur den Kopf, ohne die Kanne, aus der er Öl in eine seiner riesigen Fritteusen goß, abzusetzen. Gut möglich, meinte er, daß sich jemand hier herumgetrieben habe, aber woher sollte er das wissen? Er habe dauernd die Bude voll - und dafür müsse man in diesen Zeiten wirklich dankbar sein -, und wenn da ein neues Gesicht auftauchte, würde er wahrscheinlich höchstens denken, es sei jemand aus den Büros drüben am Bulstrode Place. Da solle sie mal nachfragen. Die Häuser hätten alle große Fenster zur Straße, und er habe mehr als einmal gesehen, wie so eine Sekretärin oder ein Computerfritze aus dem Fenster gaffte, anstatt seine Arbeit zu tun. »Und ich sag's Ihnen, Miß, genau das ist der Grund, warum das ganze Land in die Binsen geht. Keine Arbeitsmoral. Nichts als Feiertage. Jeder hält nur die Hand auf und wartet darauf, daß der Staat ihm was gibt.« Als er Atem holte, um sich ausführlicher zu diesem Thema zu äußern, dankte Helen ihm hastig und ließ ihm St. James' Karte da. Falls ihm doch noch etwas einfallen sollte ...
Die Firmen am Bulstrode Place kosteten sie mehrere Stunden. Sie mußte ihr eigenes Talent zu kunstvoller Verflechtung von Beredsamkeit und Flunkerei aufbieten, um sich an Empfangsdamen und Sicherheitsleuten vorbei zu den Leuten durchzuschlängeln, die einen Arbeitsplatz mit Blick zum Bulstrode Place und zur Marylebone Lane hatten. Aber auch hier brachten ihre Bemühungen nichts außer einem fragwürdigen Arbeitsangebot von einem lüstern glotzenden Abteilungsleiter.
Nicht viel besser erging es ihr im Prince Albert Pub, wo der Wirt ihre Frage mit einem ungläubigen Lachen aufnahm. »Ob sich hier jemand rumgetrieben habe, der irgendwie nicht ins Bild gepaßt hat?« dröhnte er. »Mädchen, wir sind hier in London. Rumtreiber sind mein Geschäft, und wer paßt heutzutage schon nicht ins Bild, hm? Wenn nicht gerade einer
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