08 - Im Angesicht des Feindes
möchtest.«
»Ich bin noch zu klein«, sagte Leo.
»Na, hör mal! Du bist viel größer als die anderen Jungen in deinem Alter, und wenn du im Herbst anfängst, bist du bestimmt der längste von allen. Wovor hast du denn Angst, Leo? Daß dich die anderen verprügeln oder so was?«
»Ich bin noch zu klein«, sagte Leo wieder. Zusammengesunken hockte er auf seinem Stuhl und starrte das Gebilde an, das er aus Messer und Gabel gebaut hatte.
»Leo, ich habe dir doch eben gesagt, daß du mit deiner Größe -«
»Ich bin erst acht«, sagte Leo und sah seinen Vater an. Seine tiefblauen Augen - sogar Fionas Augen hatte er, verdammt noch mal! - schwammen in Tränen.
»Fang bloß nicht an zu heulen«, sagte Luxford, worauf sich die Schleusen natürlich erst recht öffneten. »Leo!« fuhr Luxford seinen Sohn mit mühsam beherrschter Stimme an. »Herrgott noch mal, Leo!«
Der Junge ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Seine Schultern zuckten.
»Hör auf!« zischte Luxford. »Setz dich gerade! Sofort!«
Leo versuchte, sich zusammenzunehmen, konnte aber nicht aufhören zu schluchzen. »Ich - ich - kann nicht, D-daddy.«
Genau in diesem Moment kam die Kellnerin mit dem Essen. Sie sagte: »Soll ich ... möchten Sie ... ist er ...« und blieb mit einem Teller in jeder Hand drei Schritte vom Tisch entfernt stehen. »Ach, der arme Kleine«, gurrte sie, als wollte sie einen Vogel anlocken. »Kann ich ihm irgend etwas Besonderes bringen?«
Was der Junge braucht, ist Rückgrat, dachte Luxford, aber das habt ihr bestimmt nicht da. »Es ist nichts«, sagte er. »Leo, dein Essen ist da. Komm, setz dich gerade hin.«
Leo hob den Kopf. Sein Gesicht war fleckig, und ihm lief die Nase. Er holte krampfhaft Atem. Luxford zog sein Taschentuch heraus und reichte es ihm. »Schneuz dich«, sagte er. »Und dann iß.«
»Wie war's mit was Süßem?« meinte die Kellnerin. »Soll ich dir was bringen, hm?« Und zu Luxford mit gesenkter Stimme:
»So ein schönes kleines Gesicht! Er sieht aus wie ein Engel.«
»Danke«, sagte Luxford, »aber im Moment hat er alles, was er braucht.«
Er nahm Messer und Gabel und begann zu essen. Leo ließ mit kummervoller Miene Ketchup über seine Pommes frites rinnen. Er stellte die Flasche nieder und starrte mit bebenden Lippen auf seinen Teller hinunter. Gleich würde es wieder Tränen geben.
Den Mund voll Kalbsfrikassee, das zu seiner Überraschung ausgezeichnet schmeckte, ob es nun von einem unschuldigen Kuhbaby stammte oder nicht, sagte Luxford: »Iß jetzt, Leo.«
»Ich hab' keinen Hunger. Mein Mund fühlt sich komisch an.«
»Leo! Ich habe gesagt, du sollst essen.«
Leo schniefte und nahm eine von den Pommes frites, biß ein winziges Stück davon ab und kaute es mit den Schneidezähnen. Luxford aß sein Frikassee und beobachtete seinen Sohn. Leo nahm einen zweiten winzigen Bissen von der Kartoffel und dann einen dritten, noch kleineren.
Er hatte sich immer schon auf passiven Widerstand verstanden. Luxford wußte, daß er ihn mit Strenge dazu bringen konnte, ordentlich zu essen, aber er wollte nicht noch einen öffentlichen Tränenausbruch.
»Leo«, sagte er.
»Ich esse ja.« Leo nahm die Hälfte seines Toasts und hielt sie so, daß die Ananasscheibe herausrutschte und auf den Tisch fiel. »Igitt!« sagte er.
»Du benimmst dich wie ein ... « Luxford suchte nach einem anderen Wort, als er die Stimme seiner Frau hörte, die Stimme der Vernunft: Er benimmt sich wie ein Kind, weil er noch ein Kind ist, Dennis. Warum erwartest du Dinge von ihm, die er nicht leisten kann, weil er eben erst acht Jahre alt ist? Er hat keinerlei überzogene Erwartungen an dich.
Mit den Fingern nahm Leo die mit Hüttenkäse verschmierte Ananasscheibe und ließ sie auf das Häufchen Pommes frites fallen. Er gab noch einmal Ketchup dazu und rührte alles um. Mit dem Zeigefinger. Er wollte seinen Vater provozieren, Luxford wußte das. Dazu brauchte er keins von Fionas psychologischen Büchern. Aber er würde sich nicht provozieren lassen.
»Ich weiß, du hast Angst davor, von zu Hause wegzugehen«, sagte er, und als Leos Lippen wieder zu zittern begannen, fuhr er hastig fort: »Das ist ganz normal, Leo. Aber Baverstock ist ja nicht aus der Welt. Es ist nur achtzig Meilen von zu Hause.« Doch er konnte dem Jungen ansehen, daß für ihn »nur achtzig Meilen« so weit waren, als würde man ihn auf einen anderen Stern verbannen, zu dem seine Mutter ihm nicht folgen konnte. Nun, Leo würde sich daran gewöhnen müssen, ohne
Weitere Kostenlose Bücher