0803 - Im Folter-Keller des Vampirs
sie, dass Aron von Geburt an blind war. Farben besaßen keinerlei Bedeutung für ihn.
Arons Gedanken kehrten zum gestrigen Abend zurück. Okay, er hatte zwei große Whiskeys getrunken, doch das war für ihn keine ungewöhnliche Menge. Melinda und er lagen ständig im Clinch, wenn es um Alkohol ging. Seine Schwester wollte ihn unter allen Umständen davon los bekommen. Ihre große Sorge war, dass Aron irgendwann in den Drogensumpf gezogen wurde. Melinda wusste nur zu gut, wie unverantwortlich viele in der Kunstszene damit umgingen. Alkohol war für sie die Einstiegsdroge - alles weitere kam oft wie von selbst hinzu.
Aron dachte nicht im Traum daran, sich bewusstseinserweiternde Mittel einzuverleiben. Natürlich wurden sie ihm ständig angeboten, auf dem sprichwörtlichen goldenen Tablett serviert, doch er lehnte stets energisch ab. Wenn es bildende Künstler gab, die diese Seelenkrücken brauchten, dann gehörte er mit Sicherheit nicht zu dieser Gattung.
Heute in der Frühe hatte er sich ausgesprochen gut gefühlt, war mit echter Vorfreude auf das neue Objekt ins Atelier gegangen. Nein, es hatte nichts Außergewöhnliches gegeben, das den Vorfall von vorhin erklären könnte.
Erneut klemmte er sich die Krücken unter die Armbeugen. Noch vor sechs Monaten hatte er eine solche Hilfe nicht benötigt. Doch nach dem letzten turnusmäßigen Gesundheitsscheck durch Dr. Rowen hatte sich das schlagartig geändert. Das Resultat war eindeutig und niederschmetternd für Cassianus ausgefallen: Er litt an Muskelschwund. Allister Rowen und Aron kannten sich lange genug, um nicht erst lange um den heißen Brei herum reden zu müssen. Ein Jahr… höchstens achtzehn Monate noch, dann würde Aron an den Rollstuhl gefesselt sein.
Sicherlich würde er auch dann noch arbeiten können, doch nur an kleineren Objekten. Überlebensgroße Statuen, die stets ein Markenzeichen von ihm gewesen waren, konnte es dann nicht mehr geben. Der Stein, der jetzt im Atelier stand, war vielleicht der Grundstock für Arons letztes wirklich großes Werk. Das abschließende Fanal seines Schaffens, der geniale Schlussakkord!
Jetzt jedoch schien er sich als Büchse der Pandora zu entpuppen.
In seinem Büro angekommen, ließ sich Cassianus schwer in den Schreibtischsessel fallen. Vielleicht brauchte er einfach Gesellschaft, die diese irren Gedanken und Empfindungen verdrängen konnte? Er gestand sich ein, dass er sich dem Stein in seinem Studio nicht ein zweites Mal alleine nähern wollte. Es gab nur einen einzigen Menschen, den er bei diesem neuen Anlauf bei sich haben wollte: Melinda.
Die Sprachsteuerung seines Computers war aktiv. Internet, Fax, Mails und Telefon - alles lief über die Schaltzentrale des PCs. Cassianus nutzte die neueste Technik in vollem Umfang aus. Natürlich konnte auch sie ihm das fehlende Augenlicht nicht ersetzen, doch im Alltagsgeschäft war sie eine große Hilfe für ihn.
Arons Nimbus als Bildhauer war strahlend, doch außerhalb seiner Kunst war er nichts weiter als ein Mensch mit einer Behinderung, der zudem auf dem schlimmen Weg war, ein Pflegefall zu werden. Er gab sich da keinen Illusionen hin - genau so sah man ihn. Und aus so manchem Gespräch der letzten Zeit hörte er erste Töne des Mitleids heraus. Er hatte für sich noch keinen Weg gefunden, damit umzugehen. Vielleicht würde es am Ende nur einen einzigen geben…
Er schüttelte diese morbiden Gedanken schnell von sich ab.
»Anwahl - Melinda.« Er sprach akzentuiert und laut, denn die Kommunikation mit der Sprachsteuerung haperte ab und an. Geduldig wartete er ab, dass die Telefonverbindung zu seiner Schwester erfolgte. Melinda war vor einem Jahr nach Brooklyn gezogen. Nach zwei gescheiterten Ehen hatte sie in der Anonymität New Yorks untertauchen wollen - und nicht zuletzt war es ihr wichtig, in Arons Nähe zu sein. Das Verständnis zwischen den Geschwistern war groß.
Anwahl erfolglos beendet. Melinda war also nicht zu Hause. Und zu einem Anrufbeantworter hatte Aron sie bisher einfach nicht überreden können. Sie mochte diese Geräte einfach nicht. Er musste es also später noch einmal versuchen.
Sie haben eine neue Nachricht auf dem AB. Cassianus stutzte. Die alten Aufzeichnungen hatte er doch bereits abgehört - und während er hier im Büro saß, hatte es definitiv keinen neuen Anruf gegeben.
»Nachricht abspielen.« Vielleicht war es ja sogar Melinda, die ihn hatte erreichen wollen?
Die Stimme eines Mannes erklang. Dumpf und kurzatmig kam sie aus den
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