0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
konnte kaum glauben, dass hier vor gerade mal 30 Jahren einer der mörderischsten Kriege getobt hatte. Die Geschichte hatte diesem Land tiefe Wunden geschlagen, und es würde noch sehr lange dauern, bis sie wieder verheilt waren.
Sie mieden den Stadtkern und fuhren gleich über eine Ausfallstraße in Richtung Mekong-Delta. Der Zeitpunkt, an dem sie Saigon hinter sich ließen, war kaum auszumachen. Die Bebauung nahm zwar ab, aber dicht an der Straße gab es immer noch ein nicht enden wollendes Band von Händlern, die Lebensmittel, Getränke, Mopeds, Papierblumen oder Tresore verkauften.
Hinter den barackenartigen Gebäuden, die überwiegend auch als Wohnungen zu dienen schienen, erstreckten sich endlose Reisfelder, in denen Frauen mit spitzen Strohhüten durch das kniehohe Wasser wateten. Ab und zu sahen sie Wasserbüffel, die unbeeindruckt von der Gluthitze ihr Tagwerk erledigten.
»Bei uns heißt es, eine gute Frau ist wie ein Wasserbüffel«, sagte Thanh. »Sie arbeitet ihr Leben lang ohne zu klagen!«
»Vietnamesische Männer sind weltberühmt für ihren Charme. Was sagt eigentlich Ihre Frau zu Ihren Weisheiten, Thanh?«, fragte Phuong mit zuckersüßem Lächeln.
Der Geheimdienstoffizier hustete und zündete sich dann eine Zigarette an. »Ich bin geschieden«, sagte er schließlich kleinlaut.
»Oh, wie überraschend!« Phuong zwinkerte Zamorra und Nicole vergnügt zu.
Schließlich sahen sie die ersten Nebenflüsse des majestätischen Mekong, der von seinen Quellen im tibetanischen Hochland bis hierher über 4.500 Kilometer zurückgelegt hatte. Die unzähligen Haupt- und Nebenarme des träge dahinfließenden Flusses durchschnitten die flache Ebene wie ein Spinnennetz, das braune Wasser schien von zahlreichen Silberfäden durchzogen.
Auch hier herrschte reger Verkehr. Überall auf dem Wasser sahen sie Boote aller Größen und Formen. Sie sahen Händler, die ihre Nussschalen bis zum Rand mit Früchten und anderen Lebensmitteln vollgeladen hatten, sodass ihre Boote nur wenig über der Wasseroberfläche lagen, bauchige Holzschiffe, die aussahen wie motorisierte Dschunken, und schwimmende Wohnhäuser.
»Warum haben alle Boote diese großen aufgemalten Augen am Bug?«, fragte Nicole.
»Um die bösen Wassergeister zu erschrecken«, erwiderte Phuong.
»Und, nützt es was?«
»Im Moment scheinbar nicht. Nach Jahren des Friedens und des wachsenden Wohlstands scheinen die Geister ihren Tribut zu fordern.«
Thanh gab ein verächtliches Schnauben von sich: »Ammenmärchen!«
Die Dämonenjäger achteten nicht auf ihn. »Glauben Sie daran?«, fragte Nicole.
Die junge Vietnamesin überlegte lange, bevor sie antwortete. »Ich weiß es nicht. Wir sind ein Volk, dass sich der westlichen Welt geöffnet hat. Wir sehen MTV, chatten im Internet und träumen von den Stränden in Florida. Aber wenn man am hier Wasser aufgewachsen ist, weiß man, dass es Dinge gibt, die man einfach nicht erklären kann. Wie das plötzliche Verschwinden all dieser Menschen.«
»Was genau sind das für unheimliche Erscheinungen, die die Augenzeugen gesehen haben?«, fragte Zamorra. »Die offiziellen Berichte waren da etwas unpräzise.«
»Die meisten haben gar nichts Konkretes gesehen«, räumte Phuong ein. »Nur unheimliche Gestalten, dort, wo sich eigentlich niemand hätte aufhalten dürfen. Immer kurz bevor oder nachdem jemand verschwunden ist. Aber einige haben auch etwas mehr gesehen…« Die junge Frau zögerte eine Moment, bevor sie fortfuhr. »Es waren Soldaten. Keine Soldaten unserer heutigen Armee, sondern solche aus der Zeit des Amerikanischen Krieges…«
Trotz der tropischen Außentemperaturen schien Phuong zu frösteln. Zamorra blickte nachdenklich aus dem Fenster auf die endlose Weite des Deltas. Ein Land, das vom Krieg so traumatisiert war, wurde die Gespenster des Krieges so schnell nicht wieder los. Aber vielleicht waren diese hier auch sehr real. Sie mussten auf alles gefasst sein.
***
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Weniger als eine Viertelstunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Wie ein mahnender Finger ragten die traurigen Überreste der zerstörten Drachenbrücke in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Die Baustelle wirkte verlassen. Überall standen ungenutzte Kräne, Maschinen und Arbeitsgeräte herum, aber von den Arbeitern war nirgendwo etwas zu sehen.
Thanh lenkte den Wagen über das letzte Stück der gesperrten Straße und hielt am Fuß der Brücke vor einer Reihe von Baracken. Die meisten
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