0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
Miss Chin-Li?«
»Nicht so wichtig.«
»Die Herrschaften sind sicher über Handy zu erreichen.«
»Sicher, das werde ich versuchen…«
Bevor William nachhaken konnte, legte die Chinesin auf. Menschen, die spurlos im Mekong-Delta verschwanden. Seltsame nächtliche Erscheinungen. Soldaten aus längst vergessenen Kriegen. Chin-Li kannte die Geschichte.
Sie hatte sie einst in einem uralten Dokument gelesen - in der Geheimbibliothek der Neun Drachen.
Leider konnte sie sich kaum noch an Details erinnern. Sie hatte als junges Mädchen unzählige dieser Schriften studiert, vieles hatte sie im Laufe der Jahre wieder vergessen.
Doch jetzt konnte dieses Wissen Zamorra und Nicole helfen in ihrem Kampf gegen die Kräfte des Bösen. Also würde sie ihnen dieses Wissen zur Verfügung stellen.
Um an das Dokument heranzukommen, musste Chin-Li nach…
***
…Hongkong
»Sie darf nicht zurückkommen! Sie ist eine Verräterin.«
»Wenn sie klug ist, weiß sie das. Sie wird sich verkriechen - im lausigsten Rattenloch, das sie finden kann.«
»Nein, sie ist eine Kriegerin. Sie weiß, dass sie sich nicht vor uns verstecken kann. Jetzt, da wir sie aufgespürt haben, wird sie reumütig zu uns zurückkehren.«
»Dann müssen wir sie bestrafen für ihren unsäglichen Frevel.«
Selten hatte Meister Shiu seine Brüder so aufgeregt erlebt. Seit der Späher seinen Kontakt mit der ehemaligen Killerin der Neun Drachen gemeldet hatte, waren die neun Oberhäupter des Ordens in heller Aufregung.
Drei Jahre hatten sie gebraucht, um Chin-Li aufzuspüren, und dann hatte die abtrünnige Kriegerin ihren Verfolger sofort entdeckt. Sie ist schon so lange allein da draußen, und sie ist immer noch unschlagbar, dachte Meister Shiu, und wider Erwarten fühlte er so etwas wie Stolz. War er es doch gewesen, der die Ausbildung des jungen Mädchens überwacht hatte, das mit drei Jahren in das wie eine Festung gesicherte Kloster im Stadtteil Mong Kok gebracht worden war, um zur gefährlichsten Waffe des Ordens ausgebildet zu werden.
Jetzt also brachte Chin-Li verzogenen amerikanischen Gören die Kampfkunst bei, durch die sie selbst einst zu einer unbesiegbaren Waffe geworden war.
Welch eine Verschwendung.
Meister Shiu musste seinen Brüdern Recht geben. Chin-Li hatte sich eines ungeheuren Verbrechens schuldig gemacht, indem sie ohne Erlaubnis dem Orden den Rücken gekehrt hatte. Aber er hatte auch nicht vergessen, was Chin-Li für die Neun Drachen getan hatte, als der namenlose Dämon nach Hongkong zurückkehrt war, um sich die Stadt untertan zu machen. [3]
Für diese Schlacht waren die Neun Drachen einst gegründet worden. Nachdem Tin Hau, die mächtige Zauberin, die heutzutage überall in Asien als Meeresgöttin verehrt wurde, den Dämon vor über tausend Jahren zum ersten Mal besiegt und dabei ihr eigenes Leben geopfert hatte, hatten sich die neun mächtigsten Zauberer der Region zusammengeschlossen, um eine Wiederkehr des Bösen ein für alle Mal zu verhindern. Doch als es schließlich so weit war, hatte die Bruderschaft schmählich versagt.
Um ihre Machtbasis zu erweitern, waren die Neun Drachen im Laufe der Zeit zur geheimen Führung des organisierten Verbrechens in Hongkong aufgestiegen und hatten dabei systematisch auch die politische und wirtschaftliche Elite der Stadt unterwandert. Wer immer in der ehemaligen Kronkolonie offiziell das Sagen hatte, faktisch regiert wurde sie von den Neun Drachen.
Doch der Orden hatte sich so sehr auf seine weltliche Macht konzentriert, dass er seine spirituelle Basis völlig vernachlässigt hatte. Und so hatten sie dem Dämon nichts entgegenzusetzen gehabt, als er seinen Feldzug gegen die Neun Drachen begann.
Hongkong wäre heute noch in seiner Hand, wenn Professor Zamorra und Nicole Duval nicht gewesen wären , dachte Meister Shiu bitter. Chin-Li hatte schließlich an der Seite der beiden Ausländer gegen den übermächtigen Feind gekämpft und den Orden damit beschämt. Vielleicht waren seine acht Mitbrüder auch deshalb so versessen darauf, sie zu bestrafen.
»Wir müssen sie töten«, bekräftigte einer der Mönche, und die anderen murmelten zustimmend.
»Nein!«, sagte Meister Shiu. Er hatte nur sehr leise gesprochen, aber sofort richteten sich acht Augenpaare auf das Oberhaupt der Neun Drachen. »Wir sind ihr etwas schuldig!«
»Schuldig? Sie hat die Ehre der Bruderschaft in den Schmutz gezogen und…«
»Ohne sie gäbe es überhaupt keine Bruderschaft mehr«, unterbrach Meister Shiu streng.
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