0816 - Der Todesbaum
du noch arbeiten«, meinte sie, schnupperte und gähnte. »Aber besser als nächtlicher Besuch.«
Sie sah müde aus dem Fenster auf den wolkenwilden Himmel.
»Fast Vollmond«, stellte sie fest. Dann fielen ihr die Augen zu.
Es dauerte nicht lange, bis völlige Stille in das Gasthaus eingekehrt war.
Und die blieb ungebrochen bis zum Morgen…
***
Michel sang das Lied, das der Baum ihn gelehrt hatte. Es rief das uralte Wesen ins Leben, weckte es aus seinem erschöpften Schlaf mit dem Versprechen von Nahrung. Dann, wie in einem eigenen Wind, bewegten sich die Äste und griffen nach dem, was sie ihm darboten.
Michel war der Erste gewesen, dem das Lied zuteil wurde, in einer sommerlichen Nacht vor vielen Jahren. Er hatte sie zusammen mit irgendeinem namenlosen Mädchen aus der Stadt unter dem Baum verbracht. Sie war auf Reisen, er hatte sie im Nachbarort getroffen.
Michel mochte ein Junge vom Land sein, aber schon damals war etwas Sonderbares an ihm gewesen, eine lauernde, gefährliche Art, die Mädchen anzog wie ein Licht die Motten. Dann kam er gern hierher, in den Hain auf dem Hügel, um sich mit ihnen zu vergnügen - so wie in jener Nacht.
Da hatte er, mitten in seiner selbst bezogenen Leidenschaft, das Lied zum ersten Mal gehört. Tief in seinen Gedanken hatte es geklungen, wie der Pulsschlag der Erde selber. Hungrig, gierig, wild. Es hatte ihn sofort in Bann geschlagen, als träfe er eine verwandte Seele.
Ohne darüber nachzudenken, hatte Michel das Lied gesungen - sehr zum Erstaunen des Mädchens, das unter ihm im Gras lag.
Ihre Verwunderung war noch gewachsen, als der Schleier der Trauerweide über ihnen im Rhythmus des Liedes zu tanzen begann. Und es hatte sich in Entsetzen verwandelt, als sich die Äste des Baumes in ihren weißen Leib bohrten, um ihm das Leben auszusaugen und sie als vertrocknete Hülle zurückzulassen.
Die ganze Zeit hatte Michel gesungen und zugesehen. Und dann, als die Zweige sich ihm zuwandten, war er nicht zurückgewichen, sondern hatte einfach weiter gemacht. Selbst als die Spitze des -schlanken Astes in seine Kehle drang und seine Flüssigkeit in ihn strömte. In dieser Nacht hatte er seine ersten Fähigkeiten bekommen, den ersten Geschmack der Magie. Der Baum hatte das Opfer angenommen -und viele waren seither gefolgt.
Kühl beobachtete Michel nun, wie der Körper des jungen Rucksacktouristen innerhalb von Sekunden alterte, bis er aussah wie ein mumifizierter Greis. Dieses Opfer hatte weniger Widerstand geleistet als das letzte, das fast entkommen wäre. Aber eben zum Glück nur fast.
Und trotzdem bereitete dieser Jules Leroc ihnen noch Ärger, obwohl er schon unter dem Laub vermoderte. Mutter Dahut hatte die Fremden empfangen, die jetzt in Bocage-Noir waren, diesen Zamorra und seine Freundin Nicole Duval. Sie wirkten auf den ersten Blick wie einfache Reisende, ein reiches Liebespärchen auf der Suche nach einem verschwiegenen Ort.
Aber Mutter Dahut hatte sich keine Sekunde lang täuschen lassen. Die Wirtin war die zweite, die das Lied gelernt hatte, da es im Gleichklang mit ihrer vom Alter verbitterten, machthungrigen Seele schwang. Michel hatte sie selber zum Baum geführt, kurz nachdem er dessen Geheimnis entdeckt hatte. Jetzt war sie eine sehr fähige Erste des Kreises.
Sie hatte berichtet, dass die fremde Frau über gewisse Fähigkeiten verfügte, sogar ziemlich starke. Duval hatte versucht, in ihren Gedanken herumzuschnüffeln und Mutter Dahut war gezwungen gewesen, die Kraft des Baumes anzurufen, um sich und die anderen abzuschirmen. Das war bedenklich.
Darum stand die Wirtin nun mit den anderen am Stamm und empfing neuen Segen, ebenso wie die jüngeren Mitglieder des Kreises. Unter ihnen Merille, Michels neuste Schülerin.
Er runzelte die Stirn, während er weitersang. Sie hatte den ganzen Ärger erst ins Dorf gebracht durch die Wahl ihres ersten Opfers. Gewiss, er hatte auch nicht ahnen können, was daraus werden würde. Aber es war jetzt an ihm, sich zu überlegen, was er mit Merille machen sollte. Er spürte da eine Schwäche in ihr, einen Mangel an echter Leidenschaft und Hingabe an den Baum.
Nun sollte sie den Segen der Zweige empfangen. Sie war sehr fähig und begabt in den Wegen der Magie. Die Zeit würde zeigen, was daraus werden konnte…
»Die Fremden werden uns Ärger machen«, unterbrach Mutter Dahut seine Gedanken und seinen Gesang. Sie hatte den Baum verlassen und war zu ihm getreten. Das war respektlos, aber sie spürte wie er, dass der Baum
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