0824 - Liebestanz der Totenbräute
eine von ihnen je in Schwierigkeiten befinden, dann war die andere verpflichtet, ihr beizustehen. Das hatten sie sich nicht nur versprochen, sondern auch durch das eigene Blut besiegelt.
Hetty Morland wusste, dass es Lady Sarah gut ging. Sie war zwar keine Berühmtheit geworden, aber hin und wieder hatte sie etwas über sie in der Zeitung gelesen. Sogar der Spitzname Horror-Oma war einige Male aufgetaucht. Damals hatte Hetty darüber gelächelt, das tat sie heute nicht mehr, denn sie wusste genau, dass sie diesen Horror am eigenen Leibe erleben würde, wenn der Baron sie heimsuchte.
Sie lag auf dem Rücken.
Es war noch vor Mitternacht. Das Licht im Haus war verloschen.
Nur die Notbeleuchtung brannte, die den breiten Flur in der ersten Etage kaum ausfüllte. Unter der Tür hindurch fiel nur ein sehr schwacher Streifen, der schon bald in der Dunkelheit des Zimmers versickerte. Die Räume des Hauses waren ziemlich groß. Möbel passten genügendhinein, und auch Hetty hatte ihre eigenen mitgebracht.
So stand an der anderen Wand, ihr gegenüber, der große Kleiderschrank, ein Stück aus dem Jugendstil, das bereits ihre Eltern besessen hatten. Das Bett gehörte ihr, der Tisch, die vier Stühle, natürlich auch die beiden Kommoden, die das obere Teil des Betts flankierten.
Zwei Lampen verschönerten die Nachttische. Ihre halbrunden Kuppeln bestanden aus buntem Muranoglas.
Das Zimmer war so lang, dass es zwei Fenster aufnehmen konnte.
Sie reichten in ihrer Höhe bis fast an die Decke, und hinter ihnen lauerte die Dunkelheit der Nacht, hin und wieder unterbrochen vom Schattengerippe eines Baumes, in dessen Kronen sich nur noch wenige Blätter im Wind bewegten.
Der um das Haus herum liegende Park war sehr groß, und er setzte sich noch weiter fort. Aber dorthin, wo er von einem breiten Gitter geteilt wurde, ging man nicht, denn da lag der alte Friedhof in all seiner Unheimlichkeit.
Niemand wurde dort mehr begraben. Wer im Heim starb, der fand seinen Platz auf dem normalen Friedhof, etwas mehr als vier Meilen entfernt, wo auch die normale Welt, die kleine Stadt, lag.
Hetty konnte nicht schlafen.
Für sie war es nichts Außergewöhnliches, denn auch in den vorherigen Nächten hatte sie oft genug wach im Bett gelegen. In dieser Nacht jedoch war es anders. Da hatte sie einfach das Gefühl, von einem Strom durchflossen zu werden, der ihr Blut in Elektrizität verwandelte und sie regelrecht aufputschte. Hinter ihrer Stirn klopfte es, das Herz schlug unregelmäßiger, was allerdings nichts mit ihrer körperlichen Konstitution zu tun hatte, denn die war okay. Ihre Probleme lagen mehr im seelischen Bereich.
Über sich sah sie die Decke. Nur mit verwischten Konturen, mehr in ein dunkles Grau eingefasst, als lägen dort flache Wolken, die weder vom Licht des Mondes noch vom Schimmern eines Sterns durchbrochen wurden. Die Wände verschwammen dort mit der Finsternis, wo sie weit genug vom Fenster entfernt lagen, und die Möbel wirkten wie kompakte, bedrohliche Schatten.
Still war es geworden.
Die Fenster hatte Hetty geschlossen. Sollte es der Eindringling tatsächlich auf sie abgesehen haben, wollte sie ihm nicht die Chance geben, auch dort lautlos in ihr Zimmer zu gelangen. Da musste er schon die Tür benutzen, und das würde sie hören, auch wenn sie in einen leichten Schlaf gefallen war.
Am späten Abend war der Wind aufgefrischt. Er fuhr wie mit Riesenhänden durch das herbstlich gefärbte Laubwerk der Bäume, spielte mit den Blättern, drückte die Zweige zur Seite und verwandelte den breiten Baum vor ihren Fenstern in einen gespenstischen Gegenstand, der sich wellenartig auf und nieder bewegte.
Zuerst hatte sich Hetty erschreckt, später hatte sie sich an diese Bewegungen gewöhnt, und sie wartete ab, was in dieser Nacht passieren würde.
Manchmal bewegten sich die Zweige bis dicht an das Fenster heran. Dann kratzten sie über das Glas, als hätten Totenhände ihre Finger danach ausgestreckt.
Dieses leise Kratzen und Klopfen, obwohl normal, erschien ihr schon jetzt wie ein Gruß aus dem Jenseits, und Hetty gestand sich ehrlich die Furcht vor dieser unheimlichen, kalten Totenwelt ein. Sie wollte nicht sterben, auch in ihrem Alter nicht. Die letzten Jahre wollte sie in Ruhe verleben und nicht in einer beklemmenden Angst.
Leider war ihr das nicht vergönnt.
Der Baron hatte dafür gesorgt.
Er musste es einfach gewesen sein, denn in jedem Gerücht steckt immer ein Stück Wahrheit.
Wen holte er sich in dieser Nacht?
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