0828 - Der Henker des Herzogs
den ersten Blick nicht gesehen werden.
Dafür sah ich die anderen.
Mehrere Männer standen dich hinter der Schwelle. Ich hatte den Körper zur Seite gedrückt und den Kopf schief gelegt. Raues Gelächter begleitete die torkelnden Schritte einer abgemagerten Gestalt, als diese in das Verlies stolperte. Er sah mich nicht. Er war auch nicht an Ketten gefesselt, denn er benötigte beide Hände, um sich an der gegenüberliegenden Wand abstützen zu können.
Er stand unterhalb der Öffnung, den Kopf nach vorn gebeugt, keuchend, als hätte er noch unter den Folgen einer Folter zu leiden. Der Mann war in Lumpen gekleidet, sein dunkles Haar glich schon einer Mähne, er wirkte ausgemergelt, er sah nicht aus wie ein Held. Trotzdem ging ich davon aus, dass dieser Mann Richard Löwenherz war, der König von England. Und als ich mich mit diesem Gedanken anfreundete, da spürte ich auch den kalten Schauer über meinen Rücken gleiten.
Der Mann holte tief und rasselnd Luft. Bei jedem Atemzug warf er den Kopf in die Höhe. Wenn er ausatmete, dann senkte er ihn wieder.
Ich ließ ihm Zeit.
Erst als er sich einigermaßen erholt hatte, machte ich mich durch ein halblautes Räuspern bemerkbar.
Zuerst geschah nichts.
Ich räusperte mich erneut.
Der Mann erstarrte, die Arme noch immer vorgestreckt und die Hände gegen die Wand gepresst.
»Richard Löwenherz?« fragte ich leise.
Er stöhnte.
Ich wollte ihm Zeit geben, die Überraschung zu überwinden.
Wahrscheinlich hatte ihn meine Frage getroffen wie ein Schock. Er war bisher immer allein in seinem Verlies gewesen und musste plötzlich erfahren, dass es noch einen anderen gab.
Das begriff er nicht, das wollte nicht in seinen Kopf. Aber er war nicht feige, stieß sich von der Wand ab, wobei seine Hände nachzitterten, und noch in der Bewegung drehte er sich um.
Ich stand im selben Augenblick auf.
Wir starrten uns an, schweigend, denn keiner traute sich, die Stille zu unterbrechen.
Ich hatte das Gefühl, mein Herzklopfen müsste bis zu ihm zu hören sein. Obwohl ich darauf vorbereitet gewesen war, konnte ich es noch immer nicht fassen, Richard Löwenherz vor mir zu sehen, diesen großen Kämpfer und Tempelritter, eine Lichtgestalt der Geschichte, über die seitenlange Bücher geschrieben worden waren und über deren Abenteuer es unzählige Jugendbücher gab.
Er war schmal geworden. Die lange Gefangenschaft hatte ihn gezeichnet. Die Haut im Gesicht wirkte hell, obwohl sie dunkel war, denn Schmutz klebte auf ihr wie ein dünner Film. Ich sah Augen, die tief in den Höhlen lagen, und einen Mund, der dünn und gleichzeitig auch verzerrt wirkte. Dieser Mann hatte seinen Optimismus verloren, doch gleichzeitig ging etwas vonihm aus, das ich bewunderte. Es war eine Aura, die mir mitteilte, dass er nicht bereit war, aufzugeben und die Hoffnung zu verlieren, als wüsste er genau, dass man ihn irgendwann befreite.
Wahrscheinlich war mein Anblick für ihn überraschender als umgekehrt. Aus diesem Grunde gab ich ihm Zeit, sich mit meiner Anwesenheit abzufinden.
Er schaute mich an. Sehr lange, auch sehr intensiv, dann bewegte er die Lippen, brachte jedoch kein Wort hervor. Mit etwas zittrigen Schritten trat er auf mich zu. Wieder versuchte er zu sprechen, und diesmal brachte er krächzende Worte hervor.
»Wer bist du, Fremder?«
»John Sinclair.«
»Wer hat dich geschickt? Sind es meine Freunde gewesen? Die wenigen, die ich noch habe?«
»Nein, ich bin allein gekommen und von mir aus.«
Er blieb stehen und dachte nach. Mit einer fahrigen Bewegung strich er durch sein abgemagertes Gesicht. Dann öffnete er den Mund und holte pfeifend Atem. »Du heißt John Sinclair. Gehörst du zu den katholischen Clans im Norden des Reiches?«
»Nicht ganz.«
»Aber ihr stammt doch aus Frankreich. Ich weiß es. Der Name ist mir nicht unbekannt. Du musst geschickt worden sein. Haben dich die Häscher gefangen?«
Ich schüttelte den Kopf. Verdammt noch mal, wie sollte ich es ihm denn erklären?
Jetzt hatte ich eine Frage. »Bist du der, den man Richard Löwenherz nennt und der als König von England am dritten Kreuzzug ins Heilige Land teilgenommen hat?«
»Ja, der bin ich. Der war ich einmal. Das ist vorbei. Man hat mich gefangen nehmen lassen. Mein Bruder Johann ist der Intrigant. Er und der Herzog haben an diesem teuflischen Plan gebastelt, als mein Heer und ich gegen die Ungläubigen kämpften. Ich bin ihnen in die Falle geritten. Sie haben meine Getreuen getötet, weil sie mich, allein mich
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