083 - Das Gasthaus an der Themse
sie festhielten. »Sie müssen leider Anklage gegen sie erheben, Sir«, sagte der Polizist, der als erster zur Stelle gewesen war. Der Angegriffene wäre lieber unauffällig verschwunden, doch das war jetzt nicht mehr möglich. »Ich wünsche keine strafrechtliche Verfolgung«, sagte er. »Hier ist meine Karte. Sie sehen, daß ich nicht Starcy heiße. Die Frau habe ich noch nie gesehen.« Leise und nur für die Ohren des Polizisten bestimmt, fügte er noch etwas hinzu, aber der Beamte schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht, Sir«, entgegnete er. Und dann erschien eine neue Figur auf der Szene. Ein untersetzter, rotgesichtiger Mann arbeitete sich durch die gaffende Menge. Er war leicht angeheitert, und der Polizist kannte ihn offensichtlich, denn er tippte grüßend an seinen Helm. »Guten Abend, M'lord«, sagte er. »Was gibt es denn für Schwierigkeiten, hm? Eine kleine Rauferei?«
»Es ist alles wieder in Ordnung, Lord Siniford. War nur eine kleine Ruhestörung. Sie brauchen sich wirklich nicht aufzuhalten, Sir.«
Die Frau mit dem hageren Gesicht, die von dem Polizisten noch immer festgehalten wurde, beugte sich plötzlich vor und musterte den Lord forschend. »Tommy«, sagte sie dann kaum hörbar. »Erinnerst du dich an Anna, Tommy? Ich habe dir immer Kuchen gegeben, Tommy. Erinnerst du dich, weißt du noch, wer Anna war?« Lord Siniford starrte sie fast entgeistert an. »Gütiger Himmel!« krächzte er. »Aber Anna . ..« Auf einmal riß sie sich von den Polizisten los, faßte Lord Siniford bei den Schultern und begann, heftig auf ihn einzureden. »Wie? Was soll das?« rief er fast schrill. »Was soll denn das?« Der Polizist zerrte die Alte von ihm fort und schob sie vor sich her durch die Zuschauermenge. Lord Siniford stand da und sah ihr nach, ohne die neugierigen Blicke zu bemerken, die ihm galten. Dann ging er mit einem Fluch hinter dem Polizisten und seiner Gefangenen her. Sein Gesicht hatte etwas von seiner gesunden Farbe verloren, er atmete schwer und wirkte viel nüchterner als vor wenigen Minuten.
5
Inspektor Wade hatte ein Häuschen in Wapping. Es stand am Ende einer tristen Straße, aber in einer fast ländlichen Umgebung inmitten eines Gartens, in dem drei Linden wuchsen. Jene Mitglieder der Wappinger Gesellschaft, die grundsätzlich an der Rechtschaffenheit von Polizeibeamten zweifeln, wurden nicht müde, darauf hinzuweisen, daß das Häuschen Wades Eigentum war, und ergingen sich immer wieder in Andeutungen über schändliche Praktiken wie Amtsmißbrauch und Vergehen im Amt, die den Inspektor reich gemacht hätten. Die Tatsache, daß Haus und Garten ihm von seinem Vater hinterlassen worden waren, der sein Leben lang darin gewohnt hatte, zerstreute den Verdacht seiner Nachbarn nicht, die selbst stets nur so lange in einer Wohnung blieben, bis der um seine Miete geprellte Hauswirt sie hinauswarf. Sie waren fest davon überzeugt, daß Polizeibeamte sich gesetzwidrig bereicherten — angefangen bei Bestechung bis zu gelegentlichen kleinen Diebereien. Wades Diener und Hausmeister war ein ehemaliger Polizist, was von weiser Voraussicht zeugte, denn von Zeit zu Zeit steigerte sich die Abneigung gegen den Inspektor derart, daß es zu unerfreulichen Zwischenfällen kommen konnte. Einmal hatte ihm jemand den Geräteschuppen angezündet, und als er Liddy Coles aufs Schafott brachte, warf man ihm alle Fenster ein. Außerdem hatte er in der Wohnzimmerwand eine Revolverkugel entdeckt.. .
An diesem Abend war er kaum eingeschlafen, als das Telefon klingelte. Er nahm ab und hörte die melancholische Stimme von Inspektor Elk. »Erinnern Sie sich an die Selbstmörderin, die Sie aus dem Fluß gezogen haben?« fragte er. »Die Frau, die...« »Anna?« brummte Wade verschlafen. Im Augenblick interessierten ihn verhinderte Selbstmörderinnen absolut nicht. »Das ist die Dame. Sie wurde heute abend festgenommen, weil sie Captain Aikness belästigte. Aikness ist Kommandant des schönen Schiffes ›Seal of Troy‹.« »Das ist zwar sensationell, Herr Kollege«, bemerkte Wade sarkastisch, »aber daß Sie mich deshalb aus meinem warmen Bett holen ...«
»Warten Sie, es kommt noch besser«, sagte Elk. »Lord Siniford hat die Kaution für sie bezahlt.« Er sprach den Namen ganz langsam aus. »Seine Lordschaft ist ein Säufer und hat eine Wohnung in der St. James's Street. Interessiert Sie das vielleicht?« »Ich bin hingerissen«, knurrte Wade. »Warten Sie noch ein bißchen«, beschwor Elk ihn mit wehleidiger
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